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DENTALTRIBUNE Austrian Edition · Nr. 4/2010 · 16. April 2010 International Science 7 WIEN – „Das Kiefergelenk ist das wichtigste Gelenk im Körper“, schrieb Dr. George Goodheart, Begründer der Applied Kinesiology. Kaum ein kompetenter Therapeut im Bereich des Bewegungsap- parates wird heute bestreiten, dass das Kiefergelenk mit sei- ner Arbeits- und Stützmusku- latur wichtig ist, aber dass es das wichtigste Gelenk sein soll, dürfte möglicherweise überraschen. Es lohnt ein Blick in die Ent- wicklungsgeschichte des Men- schen: Frühe Lebewesen waren Hydratiere, die die Nahrung in den Körper hineinstrudelten, dort wurde sie verdaut und dann wieder auf gleichen Weg oder durch eine Kloake ausgeschie- den. Erst mit dem Landgang der AmphibienerfordertdieSchwer- kraft auch einen komplexeren Halteapparat des Kopfes. Bei den Reptilien ist diese Konstruktion noch relativ starr, aber bei den vierfüßigen Warmblütern wird eine direkte Verbindung von Halswirbelsäule und Kauappa- rat notwendig, um im dreidi- mensionalen Raum den Kopf an die Nahrung heranzuführen. Auch die Kiefer- und Gesichts- formen wurden an diese Bedin- gungen angepasst. Zunächst waren Kiefer und Kauorgan eine Art „Kombiwerkzeug“. Mit dem „Multifunktionsgerät“wurdege- fressen, sich verteidigt, der Kör- per gepflegt und sozial kommu- niziert. Die Weiterentwicklung der Säugetiere war dadurch ge- kennzeichnet, dass die Kau- werkzeuge immer mehr in den Bereich der sozialen Kommuni- kationrückten.Dieengeräumli- che und funktionelle Beziehung zwischen Halswirbelsäule und Kauapparatbliebdabeierhalten. Die Aufrichtung aus dem Vierfüßlergang brachte noch mal eine komplexere Anforde- rung an Haltung und Nahrungs- aufnahmesystem. Die vorderen Extremitäten entwickelten sich zu differenzierten Werkzeugen und die Kauwerkzeuge wurden in die immer komplexer wer- dende soziale Kommunikation einbezogen. Zur Verbindung Halswirbelsäule–Kauapparat wurden von Anfang an auch die Sehwerkzeuge und das Gleich- gewichtssystem integriert. Letz- ten Endes kann keines der Teil- systeme ohne die Informationen der anderen auskommen. Theoretisches Konzept Neuere Arbeiten aus der Hirnforschung zeigen, dass „auf jeder Ebene des Rückenmarks, in einer Region, die als ‚Lamina‘ bezeichnet wird (im Hinterhorn der grauen Substanz des Rückenmarks und im kaudalen Teil des Trigeminuskerns), die Informationen durch periphere C- und A-Nervenfasern (dünne, marklose und langsam leitende Fasern) an das Zentralnerven- system übermittelt werden. Diese Informationen hageln buchstäblich aus allen Berei- chen des Körpers auf das Ge- hirn ein und betreffen so unterschiedliche Parameter wie den Kontraktionszustand der glatten Muskulatur in den Arterien, die lokale Blutfluss- menge, die lokale Tempera- tur, chemische Stoffe, die bei Verletzungenfreiwerden,und zuletzt pH-, O2- und CO2- Werte. Alle diese Informatio- nenwerdenvomventro-medi- alen Anteil des Thalamus an neuronale ‚Landkarten‘ in der vorderen und hinteren Insel weitergegeben. Anschließend kann die Insel die Signale an Regionen wie den ventro-me- dialen präfrontalen Kortex und den vorderen Gyrus cin- guli senden. Dabei durchlau- fendieInformationenausdem Rückenmark auch den Trige- minuskern.“ (Antonio Damasio) Die komplexeste Steuerung hat sich bei den Primaten und Hominiden entwickelt. Flexion und Extension der Halswirbel- säule (HWS) beeinflussen das Öffnungsverhalten des Kiefers. Die Haltung der HWS wiederum wird auch durch Becken und Lendenwirbelsäule (LWS) be- einflusst. Auf die enge Verschal- tung von inneren Organen und Köperoberfläche sowie Myotom haben in den 60er-Jahren des vergangenenJahrhundertsHan- sen und Schliack hingewiesen. Die biologische Verdrahtung der Kopfregion, Mitwirkung am Gleichgewicht, der Nahrungs- aufnahme besorgt das Trigemi- nussystem. Der Trigeminus reicht mit seinem sensiblen spi- nalen Ast bis in die obere HWS und hat auch Verbindung zu den Augenmuskeln. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass bei Störungen in der HWS, spe- ziell nach Schleudertraumata der HWS unklare Sehstörungen auftreten. Kiefermuskulatur Genauso wie andere Mus- keln sind auch die Muskeln, die mit dem Kiefergelenk zu tun ha- ben, den Störungseinflüssen von Fehlbelastung, Trauma und Störaspekten aus dem Mundkie- ferbereich ausgesetzt. Die Kie- fermuskulatur hat aber neben den Augenmuskeln die höchste Rezeptorendichte der Muskula- tur. Die Kiefergelenkmuskeln können Triggerpunkte entwi- ckeln, die mit ihrem „referred pain“ Schmerzzustände auch außerhalb der Kiefergelenksre- gion verursachen. Es ist schon über 30 Jahre her, dass Travell und Simmons mit ihrem bahn- brechendenManualderTrigger- punkteaufdieseSchmerzarthin- gewiesen haben. Ebenfalls über 25 Jahre alt ist die Arbeit von Hannsen und Kobajashi, die zeigen konnten, dass Okklusionshindernisse von 0,1 mm weit über das lokale Kie- fergelenk hinausgehende Be- schwerden machen können. Bei gesunden Personen führte die Anwesenheit von künstlich auf- gebrachten Okklusionshinder- nissen auf der Kaufläche der Molaren zu Erhöhung des Kor- tisolspiegels, Schlafstörungen und Störungen der Muskulatur, speziell in den Kaumuskeln, die auch nach der Entfernung des Okklusionshindernisses über Wochen bestehen blieben. Nach einer Studie von Gumbiller aus Prien sollen 70 bis 80 Prozent der chronischen Beschwerden am Bewegungssystem durch das Kiefergelenk bedingt sein und sollten unbedingt abgeklärt werden. Seit über 40 Jahren beschäf- tigt sich Prof. Harold Gelb, Leiter der Pain Clinic an der Tufts Uni- versity in Boston, mit dem Pro- blem Kiefergelenk und Statik. Seine These: „Gehe von orthopä- dischen Idealverhältnissen und -proportionen aus und versuche, diese auch und gerade für Ge- sicht, Schädel, Mandibula und Kiefergelenk (wieder) herzu- stellen.“ Er setzte als einer der ersten die Tatsache um, dass die Stellung der Zähne und die ver- tikale Dimension entscheiden, wie der Condylus mandibularis in der Fossa articularis des Os temporale zu liegen kommt und dass nicht die Muskulatur und nicht das Gelenk, sondern die Stellung der Zähne – und somit die Interkuspidation (IKP) – ent- scheidet. Mit Kunststoffschienen auf den Unterkiefer versuchte Prof. Gelb die Körperhaltung zu beeinflussen. Der Forscher ver- tritt die Meinung, dass das Kie- fergelenk dem Stütz- und Bewe- gungssystem übergeordnet ist und Störungen desselben wiede- rum dasKiefergelenk(Ursache und Folgekette) beeinflussen. Praktische Konsequenzen Da sich Kiefergelenk und Haltungsapparat gegenseitig be- einflussen, hat das auch Ein- fluss auf die zahnärztliche Biss- nahme. In jeder Sekunde der Bissnahme fixiert der/ dieZahnarzt/-ärztinoder Kieferorthopäde/-in die Fehlstatik des Patienten. Deshalb sollte vor den Bissnahmen im Ideal- fall eine Balancierung des muskulären Systems durch eine manuelle Therapie (Chirothera- pie) und/oder Osteopa- thie erfolgen. Bereits vor 20 Jahren konnten Kopp und Plato die Beeinflus- sung der Ruheschwebe des Unterkiefers durch Atlastherapie nach Arlen zeigen. Um den Behand- lungserfolg durch eine Schienentherapie zu sta- bilisieren, ist eine beglei- tende Physiotherapie der Kiefer- und Halsmusku- latur unbedingte Vor- aussetzung. Störungen des Kiefergelenks und der Zahnstellung können vielfältige Störungen am Bewe- gungssystem hervorrufen: Beschwerden bei einer cranio- mandibulären Dysfunktion (CMD) am Kopf: • Stirn- und Schläfenkopf- schmerz • Nebenhöhlenbeschwerden • Haare oder Kopfhaut berüh- rungsempfindlich Beschwerden bei CMD am Ohr: • Ohrengeräusche (beispiels- weise Pfeifen, Rauschen ...) • schlechtes Hören • Ohrenschmerzen ohne Infekt • Ohr „zu“ oder „juckt“ • Schwindelgefühl, Übelkeit Beschwerden bei CMD am Kiefer: • Gelenksknacken • Reibegeräusche • Kieferschmerzen • Gesichtsschmerzen • Kieferklemme • Unkontrollierbare Kiefer- oder Zungenbewegungen Beschwerden bei einer CMD an den Augen: • Schmerzen hinter dem Auge • Lichtempfindlichkeit Beschwerden bei CMD an der vorderen Halsregion: • Schluckbeschwerden • Heiserkeit • Halsschmerzen ohne Infekt • Häufiges Räuspern • Stimmveränderungen • „Kloß im Hals“ Beschwerden bei CMD am Na- cken: • Nackensteife • Bewegung eingeschränkt • Nackenschmerzen • Schulter- und/oder Rücken- schmerzen • Taubheit oder Missempfindun- gen in Armen oder Fingern In der täglichen Praxis hat sich unter Therapeuten/-innen, Zahnärzten/-innen wie Ärzten/ -innen und Physiotherapeuten/ -innen folgendes Vorgehen be- währt: Um periphere Auswir- kungen der Störung des stoma- tognathen Systems zu identifi- zieren, ist es sinnvoll, sich entsprechende Parameter zu suchen und deren Veränderung mit und ohne festen Biss zu prü- fen. Hier eignen sich Tests aus der manuellen Medizin, wie va- riable Beinlängendifferenz, Pat- rick-Kubis-Zeichen oder der Priener Abduktionstest und die Thoraxrotation. Alle diese Para- meter sollten eine Änderung bei festem Biss aufweisen. Als potentes Untersuchungs- instrument hat sich der Muskel- test der Applied Kinesiology er- wiesen, wie er im Ärztekammer- diplom der Österreichischen Ärztekammer festgelegt ist. Auf jede Form der Stressänderung reagiert der Körper mit einer Än- derung der Muskelstärke bei de- finierter Muskeltestung. Geht Stress vom stomatognathen Sys- tem aus, erzeugt der Biss eben- falls eine Änderung der Muskel- stärke beim Test. Zahlreiche Therapeuten haben inzwischen die Erfahrung gemacht, dass dieses System sensibler ist als das Blaupapier bei der Bissprü- fung zeigt. Besonders periphere Auswirkungen des stomatogna- then Systems können mit der Applied Kinesiology zuverlässig aufgedeckt werden. Der Beitrag erschien erstmals im „Journal für Mineralstoff- wechsel“ (16/4, 2009). Die Lite- raturliste ist auf Anfrage in der Dental Tribune Redaktion er- hältlich. DT Die Bedeutung des Kiefergelenkes Das stomatognathe System hat Einfluss auf die Wirbelsäule. von Dr. Werner Klöpfer, Prim. Prof. Dr. Martin Friedrich Dr. Werner Klöpfer FAf.Neurologieu.Psychiatrie, Applied Kinesiology, Ma- nuelle Medizin, Psychothera- peutische Medizin Alser Straße 43/3 1080 Wien Tel.: 01/4 05-77 77 Fax: 01/4 05-77 77-7 werner.kloepfer@spai.at www.ganzheitsmedizin-hilft.at Kontakt Relevanz für die Praxis - Zahnärzte/-innen und Thera- peuten/-innen, die sich mit dem Bewegungsapparat beschäftigen, sollten ihr therapeutisches Vor- gehen aufeinander abstimmen. - Bei Anzeichen einer Störung von stomatognathem System und Be- wegungssystem können einfa- che periphere Untersuchungs- parameter verwendet werden (Beinlängendifferenz, Abduk- tionstest Hüfte etc.). - Als ideales gemeinsames Ar- beitsmittel kann die Methode der Applied Kinesiology verwendet werden (www.imak.co. at). - Vor jeder zahnärztlichen Biss- nahme sollte eine manualmedi- zinische oder osteopathische Korrektur des Achsenskeletts er- folgen.

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