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DENTALTRIBUNE Austrian Edition · Nr. 6/2010 · 11. Juni 2010 International Science 7 ST. PÖLTEN – Ein Kieferortho- päde oder ein kieferorthopä- disch tätiger Zahnarzt ist oft mit sehr komplizierten Fällen kon- frontiert. Bei einigen von ihnen liegt die Ursache nicht an Zahn- oder Kieferfehlstellungen. Ei- nige Patienten/-innen beklagen sichüberProblememitdemKie- fergelenk (KG), für die keine kieferorthopädische Ursache vorliegt. Diese Patienten/-innen haben zum Teil schwere subjektive Symptome – d.h. sie empfinden die Symptome, aber nicht als stö- rend – und werden als Ultima Ra- tio zu einer kieferorthopädischen Konsultation geschickt. Sie sind prothetisch und konservierend bereits versorgt, trotzdem haben sie funktionelle Schwierigkeiten und Beschwerden. Die Patienten- zahlwächstrasantan,unddieKG- Problemesolltenschnellausmeh- reren Gründen erkannt werden. Einerseits entwickeln sich diese langsam und über längere Zeit unbemerkt und verursachen stö- rende, gar quälende Beschwer- den.DerZahnarztversuchtverge- blich mit Korrekturen und Kom- pensationen erfolgreich einzu- greifen,dochdiePatienten/-innen leiden weiter. Andererseits ist das Erkennen von Kiefergelenkspro- blemen bei Streitfällen zwischen ZahnarztundPatientsehrwichtig. Bei prothetisch induzierten KG- Problemen kann der Gerichtsgut- achter eine retrospektive Unter- suchung einleiten, etwa bei der Schadenshaftung und Wiederher- stellungskosten bei zerstörten Keramikverblendungen oder -In- lays. Die Verwendung bestimmter Werkstoffe vom Hersteller ist laut Gesetz auf Patienten/-innen ohne KG-Probleme beschränkt. Bei sol- chen Fällen wird die Haftung vom Hersteller auf den Zahnarzt über- tragen. So gesehen zahlt sich ein Ausschlussverfahren beim anam- nestischen Verdacht auf KG-Pro- bleme aus. Am besten gehört ein Kiefergelenk-Screening zu den Routineuntersuchungen. Aber ist dieses Problem wirk- lich so häufig? Ja. Sollte man des- wegen komplizierte Untersu- chungen durchführen? Nein. Ob- wohl nur rund 10% der Patien- ten/-innen mit Kiefergelenkbe- schwerden „echte“ Funktionsstö- rungen haben, können subjektive Symptome bei bis zu 60% der Pa- tienten/-innenauftreten.Amhäu- figsten ist Kiefergelenkknacken, es können aber auch Schmerzen oder Funktionseinschränkungen sein. Charakteristisch ist, dass Frauen zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr doppelt so häufig be- troffen sind. Symptome Kiefergelenksgeräusche Kiefergelenksgeräusche wer- denhäufigvomPatientenangege- benundalsBefunddiagnostiziert, sindabernochkeineunbedingten Indikationen für eine Therapie. Diese Geräusche entstehen meist dann, wenn sich der Discus arti- cularis nicht in der richtigen Lage – oberhalb und leicht mesial des Gelenksköpfchens–befindet.Das Kondylus springt dann bei der Mundöffnung auf dem – meistens mesial verlagerten – Diskus, und dies erzeugt einen charakteristi- schen Knack. Funktionsabweichungen Funktionsabweichungen und -einschränkungen treten oft schleichend auf und durch die Flexibilität und Adaptationsver- mögendesKauorganssindsienur beiExtremfälleneinAnliegendes Patienten. Funktionsabweichun- gen werden hauptsächlich auch durch Diskusverlagerungen oder eben primäre Gelenkserkran- kungen herbeigeführt. Schmerz ist oft das lästigste und auch oft erst das motivierende Symptom, das den Patienten zum Zahnarzt treibt. Bei Diskusverlagerungen kommt der Schmerz relativ spät: erstwenndurchdieMundöffnung dashintereAufhängungsbanddes Diskus überdehnt wird, oft bei ei- ner mesialen Diskusverlagerung ohne Reposition. Eine Überemp- findlichkeit von Muskeln und der Gelenkgegend deutet im Allge- meinen auf eine beginnende De- kompensation des Kiefergelen- kes oder auf Entzündungen bzw. Adhäsionen direkt im Kieferge- lenk. Tritt der Schmerz flächen- förmig auf (der Patient zeigt mit der Handfläche), ist er meistens myogener Herkunft. Ist er aber punktuell zu lokalisieren (der Pa- tient zeigt mit einem Finger auf einen Punkt), liegt das Problem direkt im Gelenk. Ursachen Für die Ursachen von KG-Pro- blemen gibt es eine allgemeine Einteilung: • Dento-okklusogene Ursachen (Okklusopathie), wie etwa Vor- kontakte oder Störkontakte. • Myogene Ursachen (Myopa- thie),d.h.entzündlicheProzesse im Kaumuskel oder Muskelver- kürzungen. • Arthrogene Ursachen (Arthro- pathie), d.h. degenerative Pro- zesse; das Kiefergelenk selbst kann entzündet sein. Die Ursachen sind oft mitein- ander verbunden, eine kann also die andere auslösen bzw. verstär- ken. In der klinischen Klassifika- tion werden die KG-Probleme nach anatomischer Lage einge- teilt: • Muskuläre Erkrankungen – Muskelschmerzen mit oder ohneeingeschränkterMundöff- nung. • Diskusverlagerungen–mitoder ohne Reposition und einge- schränkter Mundöffnung. • Primäre Gelenkserkrankungen – Arthralgie, Arthritis, Arthrose. Auslöser In der allgemeinen Ätiologie werdenmehrereAuslöserfürsol- che Zustände angegeben. Für denZahnarztsind–sowohlthera- peutisch als auch präventiv – die wichtigsten: okklusale Störkon- takte und der Verlust der vertika- lenDimension.Fernerkannauch Zähneknirschen, also eine habi- tuelle Überbelastung einer wohl- funktionierenden Okklusion, auchzuKiefergelenksproblemen führen, aber das ist ein Thema fürsich.Perdefinitionemsindok- klusale Störkontakte Interferen- zen, die die Funktion oder Para- funktion stören. Störkontakte können sowohl in der sagittalen Ebene als auch transversal ent- stehen.IndersagittalenRichtung sind oft zu „hohe“ Frontzahnfül- lungen, aber auch elongierte oder gekippte Molaren Ursachen des Frühkontaktes. In der trans- versalen Ebene kann eigentlich jeder zu hohe Höcker einen Vor- kontakt darstellen. Dieser wird in der Regel einzeln und nicht symmetrisch produziert, verur- sacht daher eine sagittale oder transversale Zwangsführung oder sogar eine Rotation des Unterkiefers mit der entspre- chenden Überbelastung des Kie- fergelenks. Änderungen der vertikalen Dimension treten entweder durch ausgedehnten Verlust der Stützzonen oder durch die nicht individualisierten, kiefergelenk- konformen Restaurationen auf. Beim Verlust der Molaren/Prä- molaren kommt es zu einer Biss- senkung mit der Folge einer ein- oder beidseitigen Kompression der Kiefergelenke. Ähnlichen Ef- fekterzeugenzuniedrigeRestau- rationen. Im seltenen Fall eines zu hohen fixen oder heraus- nehmbaren Zahnersatzes wird dagegen das Kiefergelenk über- dehntundführtzuSubluxationen des Diskus. Erkennen Die Früherkennung (Scree- ning) einer Kiefergelenk-Sympto- matik kann einfach, schnell und routinemäßig durchgeführt wer- den. Sie beruht auf fünf Untersu- chungen: der Mundöffnung, den Kiefergelenksgeräuschen, der Su- che nach okklusalen Störungen, derPalpationderKaumuskelnund der traumatischen Exzentrik. Mundöffnung Die minimal erforderliche Mundöffnung beträgt mindestens 38 +/- 5mm, dass entspricht etwa zwei Querfingerbreiten und kann nach Aufforderung noch etwas ge- steigert werden. Wenn dies nicht möglich ist oder Schmerzen verur- sacht, so ist es als pathologisch zu bewerten. Von wichtiger Relevanz ist auch der Ablauf der Bewegung. Dies ist einfach mit dem Stiel eines Handinstruments zu überprüfen. Ist das eine – am besten bei den Mittellinien gemessene – symme- trische Abwärts-Aufwärtsbewe- gung, oder weicht der Unterkiefer mit zunehmender Öffnung zu ei- ner einzigen Seite ab (Deflektion)? OderistdieBewegungwieeineab- weichendeKurvevondereinenauf dieandereSeite(S-Deviation)?Die Deflektion (Abb. 1) deutet auf eine Gelenkerkrankung auf der Seite hin, zu der der Unterkiefer ab- weicht. Die S-Deviation (Abb. 2) weist oft auf eine interne Störung in einem oder beiden Kiefergelen- ken hin. Kiefergelenksgeräusche DascharakteristischeKnacken wird sehr oft vom Patienten selbst wahrgenommen, aber solange es nicht zu laut oder unangenehm ist, wird es meistens nicht als störend empfunden. Bei einer Untersu- chung sind Knacken oder Reibge- räusche mit oder ohne Stethoskop deutlich zu hören und, direkt an den Kondylen abgetastet, deutlich spürbar. Die Beurteilung des Kna- ckensgehörtnichtmehrzurRouti- neuntersuchung und ist eher die Aufgabe eines Spezialisten. Okklusale Störungen Bei einem schnellen Aufein- andertreffen der Zähne entsteht ein klingendes, hartes Geräusch. Das verweist auf ein großflächiges Zusammentreffen der Okklusal- flächenwiebeimKlatschenmitder gesamten Handfläche. Wenn aber nur wenige, einzelne Höcker und Fissuren aufeinandertreffen, hört man – wie beim Klatschen mit den Fingerkuppen – einen eher stump- fen, nicht synchronen Ton, der auf Störkontakte hinweist. Palpation der Kaumuskeln Es sind drei wichtige Muskeln, die bei den Kiefergelenkstörun- gen als Indikator dienen: M.Tem- poralis, M. masseter (vorderer An- teil) und M. digastricus (hinterer Anteil). Diese Muskeln sollten durch einen leichten aber festen Druck (immer beidseitig) unter- sucht werden. Der Patient wird dabei aufgefordert, die Zähne zu schließen. Eine ein- oder beidsei- tige Druckempfindlichkeit weist auf bestehende oder sich entwi- ckelnde Gelenksprobleme hin. Traumatische Exzentrik Die sogenannten Exzentrik- Bewegungen sind zwar in der normalenKaubewegungsrichtung (Funktionsbewegungen)durchge- führt, aber weit über die Grenze, die man dabei üblicherweise er- reicht. Das sind einerseits Protru- sionsbewegungen: Vorschub des Unterkiefers beim Kontakt der oberen und unteren Frontzähne. Dabei sollen die Molaren und Prä- molaren nicht mehr in Kontakt bleiben. Andererseits sind dies La- terotrusionsbewegungen, d.h. die FührungdesUnterkiefersaufeiner Seitedurchdieoberenundunteren Eckzähne.Dabeisollendiearbeits- seitigen und auch die balancesei- tigen Mahlzähne sowie auch die Frontzähne diskludieren. Sollten diese Bewegungen auf irgendwel- che Hindernisse (Störkontakte) treffen, so entstehen mit der Zeit nicht dem Lebensalter entspre- chendeAbrasionen(Facettierung). Findet man mindestens drei von diesen sechs Symptomen als positiv, so ist die Wahrscheinlich- keit einer Kiefergelenksstörung hoch. Den Zahnärzten/-innen ist zu raten, die Befunde zu doku- mentierenunddenPatientenzuei- nem Kollegen zu überweisen, der sich auf Kiefergelenksprobleme spezialisiert hat, bevor man mit ei- neraufwendigenkonservierenden oder prothetischen Therapie be- ginnt. DT Kiefergelenk-Screening für die Ordination Die Symptome von Kiefergelenksproblemen sollten vom Zahnarzt erkannt werden. von DDr. Thomas Felkai DDr. Thomas Felkai Wiener Str.13 3100 St. Pölten ddr.felkai@zahnspange.info Kontakt Abb. 1: Anfänglich gerade Mundöff- nungsbewegung mit späteren Abwei- chungen von der Mittellinie ohne Rückkehr zu dieser („Deflektion“). Bild:dentaConcept Abb. 2: Mundöffnungsbewegung mit asymmetrischer Seitenabweichung, die wieder zur Mittellinie zurück- kehrt („Deviation“) . Bild:dentaConcept Die Abbildungen sind dem Buch „Klinische Funktionsanalyse“ mit freundlicher Genehmigung des Verlages „dentaConcept“ ent- nommen.

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