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Dental Tribune German Edition

Fast ständig überrascht werden wir von neuen Erkenntnissen des Ver- haltens von Biofilmen – wie der Plaque auf den Zahnoberflächen. Dabei sind die zellulären Interak- tionen der Plaquebakterien unter- einanderundmitderMundschleim- haut genauso bedeutungsvoll wie die systemische und lokale Abwehr des Wirtes. Und hier stehen wir ganz am Anfang der Aufklärung. Demgegenüber ist die Epidemio- logie der Zahnkaries – in all ihren Facetten beleuchtet und komplex ausgewertet – die entscheidende Grundlage sowohl für die Entwick- lung von Gesundheitssystemen, für die Struktur der Krankenversor- gung und die Formen der zahn- ärztlichen Praxis als auch für die Biomaterialentwicklung und für die Herstellung von Geräten und Medizinprodukten. Dabei ist die EpidemiologietatsächlicheineHel- din der Wissenschaft, weil weltweit solide Daten zur Karieserfahrung in mehreren Altersgruppen gut dokumentiert sind und weil ins- besondere für Deutschland mit den Mundgesundheitsstudien I bis IV von 1989 bis 2005 eine einmali- ge Dokumentation ausgesprochen präzise erhobener Indikatoren der Mundgesundheit der Bevölkerung vorliegt. Die Epidemiologie wird mit- unter zur Hure degradiert, wenn ihreWertefürBeliebigkeitverkauft werden, wenn mitunter das Selbst- verschuldungsprinzip abgeleitet wird oder wenn die geringere Karieserfahrung für die ganze er- wachsene Bevölkerung heraus- gelesen wird, obwohl sie lediglich bei den 12-Jährigen eine deutliche Verbesserung erfahren hat und sich diese Erfolge der Prävention mit steigendem Alter zunehmend verwischen. Bleiben wir bei den Zahlen der von Karies befallenen Zähne bei den 12-Jährigen: befallen waren 1989/1992nachdemDMF/T-Index 3,9Zähne,19971,7Zähneund2005 0,7 Zähne. Das ist eine sehr deut- liche Reduktion, wobei die Zahl 0,7 befallener Zähne am Beginn der bleibenden Dentition immerhin signalisiert,dassschonfasteinVier- tel der Risikozähne (die Sechsjahr- molaren) kariös sein kann. Nimmt man das Drittel mit dem meisten Kariesbefall nach dem Signifikan- ten Kariesindex (SiC), sind es 2005 2,1 kariöse Zähne. Vergleicht man diese Zahlen über die letzten 20 Jahre bei den 15- bis 16-Jährigen,so ist die Reduktion des Kariesbefalls ebenso deutlich. Er sinkt von 11,1 Zähnen (1985, Thüringenstudie) über 4,8 Zähne (1996, Wittenstu- die), 2,1 Zähne (2004, DAJ-Studie) auf 1,8Zähne(2005,DMSIV).Aber selbst dieser Wert, immer noch am Beginn der bleibenden Dentition, ist mehr als eine Verdoppelung der befallenen Zähne in gerade einmal drei Jahren. Das impliziert nach wie vor eine intensive präventiv- kurative Betreuung der Jugendli- chen mit Kariesrisikobestimmung, FrühdiagnostikderinitialenKaries, noninvasiver Fluoridtherapie und minimalinvasiver Intervention. Wenn schon bei den Jugend- lichendieBetreuungverstärktwer- den muss, so trifft das in noch viel ausgeprägterem Maße auf die Er- wachsenen (am Beispiel der 35- bis 44-Jährigen) zu. Etwa die Hälfte aller Zähne (also 14–17 Zähne) sind restauriert (F), behandlungs- bedürftig (D) oder extrahiert (M), und die gleichen Zahlen treffen für fast alle Industrieländer zu (Tab. 1). Betrachtet man die Zahl der Zähne in Funktion (restaurier- te und gesunde Zähne) nach dem FS/T-Index,sostehtÖsterreichmit 25,6 Zähnen an der Spitze, gefolgt von Deutschland, Slowenien, Großbritannien und Australien. Der Vergleich über die letzten 20 Jahre zeigt zwar zahlenmäßig eine Differenzierung, die jedoch bezogen auf Ätiologie und Patho- genese der chronischen infektiösen Destruktion keine oralbiologische Relevanz haben dürfte (Tab.2).Be- trachtet man (mangels anderer Gruppenvergleiche) das Alter von 12 bis 24 Jahren als ein Kariesri- sikojahrzehnt, so fällt das für die untersuchten Populationen in die Zeit von 1953 bis 1973, und es bleibt fraglich, ob sich am Funk- tionsmuster der Zähne, am Mund- hygieneverhalten und an der Bio- verfügbarkeit von Fluorid seither etwas geändert hat. Das schlech- teste Szenarium könnte bedeuten, dass sich auch in den kommenden ErwachsenenpopulationenderKa- riesbefall nicht wesentlich ändert. Auf jedenFallbleibtalleinnach dem heutigen Stand der Leistungs- anspruch an die restaurative Zahn- heilkunde für Jahrzehnte hoch, und er wird weiter steigen durch drei Faktoren, nämlich: Die Men- schen werden älter. Der Wunsch nachdemErhaltdereigenenZähne nimmt gegenüber früheren Gene- rationen zu. Und eine bedarfs- gerechte zahnärztliche Versorgung von der noninvasiven Behandlung der Zahnkaries zur minimalin- vasiven Therapie bis zu mehre- ren Wiederholungs-Restaurationen kann diesen Wunsch tatsächlich meistens erfüllen. Das ist eine offensichtliche Herausforderung sowohl an die Biomaterialforschung als auch an die Dentalindustrie, funktions- gerechte Restaurationstechniken weiterzuentwickeln. Funktionsge- recht heißt in diesem Zusammen- hang, dass sich alle restaurativen Biomaterialien dem individuellen Muster der natürlichen Abrasion und Attrition und der damit ver- bundenen langsamen, aber per- manenten Eruption der Zähne im omnivoren Gebiss (wozu die menschliche Dentition natürlich zählt) anpassen sollten.Schließlich besteht auch ein deutlicher epi- demiologischer Zusammenhang zwischen ausgeprägter individu- eller Abrasion und Attrition und niedrigem Kariesbefall (Tab. 3). Auch wenn alle Faktorenkor- relationen bei einer multifakto- riellen Erkrankung nicht unpro- blematisch sind, besteht schon ein entwicklungsbiologischer Zu- sammenhang zwischen der abrasi- ven Eröffnung von Fissuren und der attritiven Reduktion des ap- proximalen Schmelzmantels und dem Risiko der Kariesauslösung oder -progression an gerade diesen Prädilektionsstellen. Damit bleibt die deskriptive, komparative und analytische Epidemiologie der Zahnkaries auch eine Herausfor- derung für die Zukunft. Vergleichende Odontologie der mastikatorischen Funktion Die Epidemiologie führt uns also an einige Lösungsansätze der Ätiologie heran. Die vergleichende International Science DENTALTRIBUNE German Edition · Nr. 12/2010 · 1. Dezember 20104 Progression und Stagnation der Parodontalerkrankungen – auch bei Karies? Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese der Zahnkaries bestimmen entscheidend die Diagnostik und Therapie, insbesondere aber auch die Prävention und ihre Erfolgsaussichten. Dabei interpretiert jede Zeit mit ihrem spezifischen Erkenntnisstand die Erkrankung neu. Ein Fachbeitrag von Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Gängler, Witten/Herdecke. Land UntsJ DMF/T FS/T Österreich 2000 14,7 25,6 Deutschland 2005 14,5 25,2 Slowenien 1998 14,7 21,9 Großbritannien 1998 16,6 21,3 Australien 1998 17,3 20,3 Ungarn 2000 15, 7 – Litauen 1998 17,4 – Brasilien 1996 22,0 – Altersgruppen DMF/T- Karieserfahrung Zahl der Zähne in Jahren Mittelwert Abrasionsgrad 2+ Niedriger DF/T-Wert 8,7 35–44 11,2 3 Hoher DF/T-Wert 1,4 11 Niedriger DF/T-Wert 9,8 45–54 12,7 1 Hoher DF/T-Wert 3,3 8 1 Abb. 1: Haifischzähne, einzigartige Biomineralisation von Enemaloid und Dentin mit Faserbefestigung am Knorpelskelett, ausgewachsene Wechselzähne mit enger Pulpakammer (histologische HE-Färbung). – Abb. 2: Haifischzähne in vivo wie Abbildung 1. – Abb. 3: Eidechsenzahn in einer Knochenrinne (histologische HE-Färbung). – Abb. 4: Molar eines Bibers mit starker Faltung und Kronenzement alsAbrasionsausgleich für Nagerzähne (histologische Färbung).– Abb.5: Molar eines Elefanten mit horizontaler Eruptionsrichtung (von links nach rechts) mit extremer Kronenfaltung und Kronenzement der herbivoren Dentition. – Abb. 6: Molar eines Elefanten von Abbildung 5 mit Blick in riesige Pulpakammern im distalen Abschnitt der fortlaufenden Zahnentwicklung, deshalb funktionslange Dentinbildung als Abrasionsausgleich.– Abb.7:Wurzelende eines Elefantenstoßzahnes mit lebenslanger Dentinbildung („Elfenbein“) nach Reduktion der Schmelzentwicklung,riesige Pulpakammer als Platzhalter für nachwachsendes Dentin.– Abb.8: Ziegenmolar mit extremer vertikaler Faltung,lebenslanger Dentinbildung alsAbrasionsausgleich bei herbivorer Ernährung,große Pulpakammern,Kronenzement. Tab. 1: Vergleichende Karieserfahrung 35- bis 44-jähriger Erwachsener mit der Zahl befal- lener oder extrahierter Zähne (DMF/T-Index) und mit der Zahl funktionsfähiger gesunder oder restaurierter Zähne (FS/T-Index) pro Individuum. Tab. 3: Korrelation des Kariesbefalls mit der Zahl der Zähne mit ausgeprägter okklusaler Abrasion und Attrition mit Grad 2 und höher bei einer türkischen Erwachsenengruppe in der Stadt Witten (1996) bei hoher Spreizung der Karieserfahrung mit befallenen Zähnen (DF/T-Index),Mann-Whitney-U-Test < 0,001. ➟ Studie UntsJ DMF/T Thüringenstudie 1985 17,2 Erste Deutsche 1989 16,7 Mundgesundheitsstudie Zweite Deutsche 1992 13,4 Mundgesundheitsstudie Dritte Deutsche 1997 16,1 Mundgesundheitsstudie Vierte Deutsche 2005 14,5 Mundgesundheitsstudie Tab. 2: Vergleichende Karieserfahrung 35- bis 44-jähriger Erwachsener mit der Zahl be- fallener oder extrahierter Zähne (DMF/T-Index) pro Individuum in Deutschland in den letzten 20 Jahren. 2 3 4 5 6 7 8