8 Practice DENTAL TRIBUNE German Edition · Nr. 10/2012 · 2. Oktober 2012 Gesundheitsrisiken durch Komposite Hüft- und Knieschmerzen, Hausstauballergie oder Beinödeme – Fälle für den Zahnarzt? Auch wenn Komposite im Allgemeinen als gut verträglich gelten, können sie (Mit-)Ursache von Beschwerden und Erkrankungen außerhalb des zahnärztlichen Fachgebietes sein. Mögliche Gründe beschreibt Dr. Just Neiss, Heidelberg. Teil II. Abstand eingehalten wird, um genau dieses zu verhindern, außerdem ein Blendschutz die Kontrolle der Position am Zahn behindert und der Behandler hin und wieder doch der Versuchung erliegt, Schichtdicken von mehr als 2 mm zu legen (cave diagonale Schichtung!), dann darf man wohl davon ausgehen, dass Kompositfüllungen unter Praxis- normalbedingungen einen höheren Monomergehalt aufweisen als uns lieb sein kann. Befestigungskomposite unterliegen selbstverständlich derselben, gesamten Polymerisationsproblematik. Insbeson- dere erweisen sich die gingivanahen Approximalflächen als die unterbelich- tetsten, da dort die ankommende Licht - intensität grundsätzlich am geringsten ist – selbst wenn zusätzlich von vestibu- lär und lingual polymerisiert wurde. Ergänzend möchte ich an dieser Stelle auf den Abschnitt „Cytotoxicity“ in Schmalz et al.5, S. 111, hinweisen, in dem folgende In-vitro-Ergebnisse an isolierten Zellen zitiert werden: 1. Die Zytotoxizität von Kompositen ist abhängig vom Polymerisationsgrad. 2. Je kürzer polymerisiert, desto zytotoxi- scher (60, 30, 15 Sekunden). 3. Flowables sind zytotoxischer als Komposite mit höherem Fülleranteil. 4. Bei Dentinad- häsiven wurde in den meisten Fällen eine ausgeprägte Zytotoxizität beobachtet. zwischen Komposit und Höckern, auf denen die LED aufliegt, spielt hier eine Rolle. Selbstverständlich müssen also Kompositschichten in der Tiefe einer Kavität länger (öfter) belichtet werden als an der Oberfläche, um denselben Polymerisationsgrad zu erreichen.11An- ders formuliert: Je tiefer die Kavität, desto höher der Monomergehalt bei gleich- bleibender Belichtungszeit. 2. Nach unseren Ergebnissen lassen sich Kompositrestaurationen in der Regel nur in einen biokompatiblen Zu- stand überführen, wenn sie auch von vestibulär und lingual polymerisiert ten einschichtigen All-in-one-Bondings erfordern so viel Gesamtpolymerisations- zeit, dass ich auf ihren Einsatz inzwischen vollständig verzichte, die zweischichtigen benötigen im Durchschnitt etwas weni- ger; mit der relativ kürzesten Belichtungs- zeit kommen wir bei einem klassischen 3-Flaschen-System aus. Die Missachtung dieser drei grund- legenden, extrem wichtigen Verarbei- tungsfaktoren bei der Erstellung der ISO 4049 resp. der Bestimmung der Belich- tungsempfehlungen, ist nach meinem Verständnis ein grober Verfahrensfehler, der erheblich zur systemischen Nicht- Therapie der postoperativen Sensitivität durch Mehrfachpolymerisation. werden. Mögliche Erklärung: Der Poly- merisationsgrad des Bondings und der untersten Kompositschichten an den senkrechten, unebenen oder unter sich gehenden Kavitätenwänden ist zu ge- ring. Denn je flacher der Winkel des auf- treffenden Lichtbündels der LED, desto schwächer die Lichtintensität. Schließ- lich erwarten wir bei tief stehender Sonne ja auch nicht denselben Bräu- nungseffekt wie um die Mittagszeit. 3. Für ein so wichtiges Material wie das Bonding existiert nicht einmal eine ISO-Norm, nach der die Belichtungs- zeit zu bestimmen ist. Also prüft man zunächst seine physikalischen Eigen- schaften und bestimmt dann die zu empfehlende Belichtungszeit mittels standardisierter Proben auf glattem Trägermaterial. Testen wir nun zum Vergleich ein beliebiges Bonding a) auf einem glatten Probenträger und b) auf Dentin (klinischer Alltag), stellen wir fest, dass die Proben auf Dentin ver- gleichsweise wesentlich längere Ge- samtbelichtungszeiten erfordern. Mög- liche Erklärung: Da das Bonding „weit in die Kollagenstruktur des Dentins eindringt“12, kann es dort nur unter erheblich erschwerten Bedingungen vom Polymerisationslicht erreicht wer- den – zumal dadurch noch ein zusätz- licher Abstand entsteht. Auf diese Weise wird in dieser wichtigen Grenzzone, die per se den größten Abstand zur LED hat, die Lichtintensität noch weiter reduziert. Anmerkung: Unterschiedliche Bon- dingsysteme zeigen zusätzlich äußerst unterschiedliches Verhalten: Die geteste- biokompatibilität von Kompositres - taurationen mit weitreichenden Folgen beiträgt. Auch eine sicherheitshalber darin vorgesehene Verdoppelung der minimal für notwendig befundenen Belichtungszeit löst dieses Problem in keiner Weise. Selbst ein Faktor 5 wäre unzureichend. Insbesondere gilt dies für fließ fähige Materialien – und ebenso für Bondings. Interessantes Detail: Alte Kompositfüllungen ohne Bonding und Flow testen in der Regel vergleichsweise signifikant weniger unverträglich. Fazit: Die Belichtungsempfehlun- gen gehen davon aus, dass in der Praxis 1. zwischen LED und Material kein Abstand besteht, 2. stets mit optimalem Belichtungswinkel gearbeitet wird (90°) und 3. Dentin ein glatter Probenträger ist. Polymerisationsbedingungen Werfen wir noch einen kritischen Blick auf die Polymerisationsbedin - gungen im Praxisalltag. Alle Behandler kennen die Schwierigkeiten, im Seiten- zahnbereich eine exakte Positionierung des Lichtaustrittsfensters über die ge- samte Belichtungsdauer zu gewährleis- ten, insbesondere wenn der Krüm- mungswinkel des Lichtleiters bei einge- schränkter Mundöffnung des Patienten nicht optimal ist, sodass das Lichtbündel dann nicht die gesamte Kavität gleicher- maßen erreicht. Außerdem ist so man- cher Lichtleiterdurchmesser schlicht zu klein, um größere Kavitäten relevant zu belichten. Wenn zudem im Laufe der Be- nutzungsjahre die Lampe schwächer ge- worden ist, das Austrittsfenster verklebt oder verkratzt ist oder ein zusätzlicher Der Effekt von unterschiedlichen Polymerisationszeiten auf die Eluierung (Freisetzung) von Monomeren wurde von Polydorou et al.13,14 in zwei Studien untersucht (20, 40 und 80 Sekunden, kein Abstand zwischen LED und Probe). Ergebnis: Je länger die Komposite poly- merisiert wurden, desto geringer war die Freisetzung von Monomeren. Im Bemühen um Minimierung von systemischen Wirkungen kommt dem Parameter „Verarbeitungstechnik und Sorgfalt des Behandlers“ aus den beschriebenen Gründen eine Schlüssel - position zu. Auch im Kontext moderner Komposite hat offenbar das uralte Thema (Rest-)Monomere nichts von seiner Aktualität verloren. Flowables, ein- und zweiphasige Bondingsysteme brauchen länger Besondere Erwähnung verdienen Materialien, die zwar lichthärtend sind, aber so exorbitant viele Belichtungsein- heiten benötigen, dass eine sehr kritische Bewertung ihrer Indikation unum - gänglich ist – falls man auch den Faktor Biokompatibilität berücksichtigt: 1. Alle nicht festen Komposite wie „Flowables“, Versiegelungen und sämtliche Materia- lien, die laut Hersteller in 4 oder 5 mm Schichtdicke verarbeitet werden können, 2. die ein- oder zweiphasigen Bon ding - systeme. Sie alle zeigen im kinesiologischen Regulationstest dasselbe Verhalten: Selbst dünnste Schichten am Kavitä - tenboden benötigen extrem viel mehr Belichtungseinheiten als eine 2-mm- Schicht eines festen Komposits als Deck- schicht – vgl. auch Schmalz Punkt 3 und 4 am Ende des letzten Abschnitts. Wir dürfen uns auch nicht wundern, wenn wir „mal eben“ 2 mm Flow o.ä. legen oder eine Milchzahnkavität mit bon- dingintegriertem Komposit füllen oder eine aufgezogene Fissur mit einer Ver - siegelung versorgen, die bis zu 2 mm ein- dringt, dass 40 bis 60 x 40 Sekunden (!) mit MfP vonnöten wären (s.u.) – statt der empfohlenen 20 Sekunden. Ap - plizieren wir eine 4-mm- oder 5-mm- Schicht von einem der modernen, genial verarbeitungsfähigen Bulk-Materialien, liegen die Belichtungszeiten zwischen 50 und 80 x 40 Sekunden – die notwen- digen Pausenintervalle einmal außer Acht gelassen. Da nach unseren Ergeb- nissen die Bondings – insbesondere die ein- und zweiphasigen – ebenfalls er- heblich zur Unverträglichkeit von Kom- positrestaurationen beitragen, seien hier die Belichtungszeiten auf einer hori - zontalen Dentinfläche eines 6 mm tiefen approximalen Kastens erwähnt – ohne Be- rücksichtigung der senkrechten Fläche (!): 15 bis 20 x 40 Sekunden. Mein Fazit: Da wir unsere Zeit nicht – im wahrsten Sinne dieses Wortes – mit „stunden“lan- gem Polymerisieren verbringen wollen, verzichten wir in meiner Praxis lieber auf ihren Einsatz. Licht-, dual- und chemisch härtende Komposite Kurz erwähnen möchte ich noch die nicht methacrylathaltigen lichthär- tenden Komposite. Die gesamte be- schriebene Problematik findet sich auch bei diesen Materialien wieder: Wenn sie nach Herstellerangaben polymerisiert werden, stellen auch sie (starke) Dauer- stressfaktoren dar. Ein wichtiger Hinweis gilt den Kompositen, die in der Zahntechnik als Verblendungen, Kleber, Haftvermittler, Opaker oder auch zum „Coating“ Ver- wendung finden. Da die Polymerisation im „Lichtofen“ grundsätzlich völlig un- zureichend ist – selbst bei fünffacher GPZ – und ihr Bestimmungsort eben- falls der Mund des Patienten ist, können auch sie in sehr relevantem Maß zu Beschwerden und Erkrankungen außer- halb unseres Fachgebietes beitragen. Wer käme auf die Idee, dass sich seit vielen Jahren bestehende, therapieresis- tente Beinödeme innerhalb einer Woche zurückbilden können und nie mehr auftreten, nachdem „lediglich“ die 10 PO-Verblendungen einer Konusarbeit extrem oft mit einer Praxis-LED nach - gehärtet wurden? Die chemisch härtenden Kompo- site erfreuen sich aus gutem Grund für Aufbauten und als Corematerialien zu- nehmender Beliebtheit. Aber alle bisher getesteten Materialien dieser Art beein- trächtigen die Regulation deutlich, z.T. sogar sehr stark, und wirken damit als (sehr starke) Dauerstressfaktoren. Wer- den chemisch härtende Komposite ent- fernt, berichten manche Patienten von einem „anfallsartigen“, „totalen Power- zustand“ am selben Tag: „Ich wusste gar nicht, dass ich so viel Kraft habe.“ Dualhärtende Materialien wirken ebenfalls als permanente (starke) Stres- soren, solange sie nicht maximal licht - gehärtet sind: Je weniger lichtgehärtet, desto stärker.5 Alle bisher getesteten kunststoffhaltigen „Schutzlacke“ für Der erste Teil dieses Beitrages (Dental Tribune German Edition 9/12) behandel te systemische Wirkungen unterschied- lichster Art, ihre Diagnostik und The - rapie, die Bedeutung der Verarbeitung der Komposite sowie Fallbeispiele. Monomere in der Praxis Die signifikanten Besserungen, die innerhalb kürzester Zeit durch Nach- härten erzielt werden können, lassen vermuten, dass ein hoher Polymerisa- tionsgrad für die Biokompatibilität auch von Kompositen von größter Bedeu- tung ist – was seit Jahrzehnten bekannt ist: Je höher der Polymerisationsgrad, desto härter und verträglicher ist das Material.8,9,10 Im Prinzip besteht infolge- dessen – zumindest theoretisch – ein breiter Konsens über die Notwendigkeit, Monomere auf ein Minimum zu redu- zieren. Prothesenkunststoffe betreffend hat diese Erkenntnis längst Eingang in die Zahntechnik und die Praxis gefun- den. Was heißt es aber, dieses Wissen auf die lichthärtenden Komposite zu über- tragen, bei denen der materialtechnisch bedingte maximale Polymerisationsgrad mit 65 bis 77 Prozent angegeben wird? Es müsste zumindest Einigkeit da rin be- stehen, dass ein Polymerisations grad in dieser Höhe anzustreben ist. Eine solche Zielvorgabe wird aber bereits durch eine Belichtungsempfehlung von 20 oder gar 10 Sekunden gänzlich ad absurdum geführt, die gemäß der ISO-Norm 4049 (Prüfung der Durchhärtungstiefe) völ- lig korrekt ermittelt wird. Das Problem: Diese Norm ent- spricht in den nachfolgenden drei we- sentlichen Aspekten nicht den klini- schen Gegebenheiten, bildet aber die Grundlage für alle Biokompatibilitäts- prüfungen nach ISO 10993 (Biologische Beurteilung von Medizinprodukten) und EN ISO 7405. Folge: Sämtliche Bio- kompatibilitätsprüfungen werden mit Prüfkörpern durchgeführt, die einen deutlich höheren Polymerisationsgrad aufweisen dürften als die Komposite im klinischen Alltag – und damit auch einen höheren Biokompatibilitätsgrad. Begründung: 1. Der in der Praxis nahezu stets vor- handene Abstand zwischen Lichtquelle und Material bleibt in der ISO 4049 völ- lig unberücksichtigt, spielt aber für den Polymerisationsgrad jeder Komposit- schicht eine immense Rolle – insbeson- dere bei den unteren. Denn die Licht - intensität nimmt mit zunehmendem Abstand signifikant ab: mit dem Qua- drat der Entfernung! Bereits der Abstand