8 International Interview DENTAL TRIBUNE German Edition · Nr. 1+2/2013 · 30. Januar 2013 „Die Zukunft wird in der Herstellung von synthetischen Knochenersatzmaterialien liegen“ Der Einsatz von biologischem oder synthetischem Knochenersatzmaterial: Welche Bedeutung hat dieser heute für die Zahnmedizin und welche Materialien stehen dem Behandler derzeit zur Verfügung? Prof. Dr. Dr. Frank Palm, MKG-Chirurg am Klinikum Konstanz, gibt Antworten. Von Georg Isbaner. satzmaterialien zu arbei- ten, da diese Materialien peu à peu durch ei ge nen Knochen im Sinne einer Creeping Substitution (schleichender Ersatz) er- setzt werden. Nun gibt es heute auf dem Markt eine Vielzahl von Materialien unterschied- lichster Provenienz. Was unterscheidet die Mate- rialien im Wesentlichen? Dem Behandler steht heute ein breites wissen- schaftlich dokumentier- tes sowie praktisch er- probtes Spektrum an Knochenersatz- materialien zur Verfügung. Unterschei- det man die Knochenersatzmaterialien nach ihrer Herkunft, so lassen sich vier Arten beschreiben: Meiner Auffassung nach sollte man die Knochenersatzmaterialien auch nach ihrem Ursprung einteilen. Unter diesem Gesichtspunkt hätten wir zwei große Gruppen, nämlich die biologischen und die synthetischen Knochenersatzmaterialien. Bei den synthetischen Materialien ist Cerasorb M ein wichtiger Vertreter. Welche Orientierungshilfe kann man im Hinblick auf den „Goldstandard“ geben? Mittlerweile ist die Meinungsviel- falt darüber, welche Materialien im Einzelnen als der „Goldstandard“ an - zusehen sind, so breit wie das Spektrum der angebotenen Materialien. Früher dachte man, der autologe Knochen sei Goldstandard auch bei der Sinusbodenaugmentation. Für mich ist es allerdings nicht mehr der autologe Knochen, sondern definitiv das ß- TCP. Welche Rolle spielen wissenschaftliche Studien und Langzeiterfahrungen? Für den Anwender ist es ganz wich- tig, dass die eingesetzten Materialien auf der einen Seite eine wissenschaftlich abgesicherte, langfristig positive Pro- gnose haben und dass sie sich auf der anderen Seite im täglichen praktischen Einsatz bewährt haben. Cerasorb M ist ein Material, das schon lange auf dem Markt ist und zu dem es zahlreiche Langzeitstudien gibt. Gleichwohl gibt es bei der Neu- und Weiterentwicklung von Knochenersatz- materialien bis hin zu biologisch aktiven Materialien keinen Stillstand. So werden künftige Innovationen die Optionen in der Rekonstruktion von kompromit - tier ten Patienten deutlich erweitern. Der Einsatz des autogenen Knochens wird hoffentlich mehr und mehr zurück - gedrängt, sodass bei den Patienten kei- ne größeren Knochenentnahmen mehr Prof. Dr. Dr. Frank Palm, Chef arzt Abteilung MKG- Chi rurgie Klinikum Konstanz. Unter der Themenstel- lung „Qualitätsorien- tierte Implantologie – Wege zum Langzeit - erfolg“ fand im Oktober 2012 in Hamburg der 42. Internationale Jahres- kongress der Deutschen Gesellschaft für Zahn- ärztliche Implantologie (DGZI) statt. Georg Isbaner, Redaktionsleiter Implantologie Journal, nutzte diesen Anlass, um mit Professor Dr. Dr. Frank Palm, Experte im Bereich von Knochen - ersatzmaterialien, resor- bierbaren Membranen und Osteosyn- thesesystemen, über den heutigen Stand und die Perspektiven beim Einsatz von Knochenersatzmaterialien zu sprechen. Georg Isbaner: Herr Prof. Dr. Dr. Palm, die Implantologie stößt heute in im- mer neue Bereiche vor. Selbst ein stark reduziertes Knochenangebot stellt heute keinen limitierenden Faktor für die Insertion von Implantaten dar. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Knochenersatz- materialien, auch im Hinblick auf autogene Knochentransplantate? Prof. Dr. Dr. Frank Palm:Knochen- ersatzmaterialien sind aus der moder- nen Zahnmedizin nicht mehr weg - zudenken. Sei es als präventive Maß- nahme zum Erhalt des Knochens nach Extraktionen oder bei der Wiederher- stellung optimaler Knochen- und Ge- webeverhältnisse als Voraussetzung für die Insertion von Implantaten. Wenn ein Zahn verloren geht – auch im Falle eines Sofortimplantates – , geht dies im- mer mit einem Knochen- und Weichge- webeverlust einher. Aus diesem Grunde kommt den Knochenersatzmaterialien im Bereich der Implantologie eine ganz entscheidende Rolle zu. Insbesondere im Bereich des Sinusliftes haben sich die Beta-Tricalciumphosphate (ß-TCP) durchgesetzt. Durch diese Rekonstruk- tionsmöglichkeiten können wir heute unseren Patienten wieder ein natürli- ches Erscheinungsbild ihrer Zähne im Sinne einer Restitutio ad Integrum ge- ben. Auch wenn es Fälle gibt, bei denen dafür ein mehrzeitiger Eingriff nötig ist. Welche biologisch-physiologischen Prozesse vollziehen sich im mensch- lichen Körper beim Einsatz von Kno- chenersatzmaterialien mit dem Ziel der Schaffung von neuem, ortsstän - digem Knochen? Dieses Thema ist für Implantolo- gen ein ganz entscheidendes. In der Im- plantologie dreht es sich in erster Linie darum, nicht nur Volumen zu rekons - truieren, sondern mit dem Knochen - ersatzmaterial dem ortsständigen Kno- chen die Möglichkeit zu geben, neuen biologisch aktiven Knochen zu gene - rieren. Dieser Knochen wird benötigt, um später eine Osseointegration des Implantates zu ermöglichen. Unter die - sem Gesichtspunkt macht es sicherlich Sinn, mit resorbierbaren Knochener- Problematik des Knochenaufbaus konfrontiert. Welche Materialien be- vorzugen Sie und warum? Mein Team und ich bevorzugen ausschließlich synthetische Materialien, weil ich meine Patienten, auch wenn es nur theoretisch ist, keinem Infek tions - risiko, das durch den biologischen Ursprung bedingt ist, aussetzen möch- te. Wenn die „regenerative Potenz“ des synthetischen Materials nicht mehr aus- reicht, verwende ich autogene Materia- lien, also körpereigene Materialien. Ich persönlich sehe keinen Vorteil von Kno- chenersatzmaterialien biologischen Ur- sprungs im Vergleich zu den Materialien mit synthetischem Ursprung. Es gibt Anwender, die sagen, dass bei bestimmten nicht resorbierbaren Kera- miken beim Implantieren ein sehr festes Gefühl beim Einbringen des Implantates vorhanden ist. Dies ist jedoch nur eine scheinbare Festigkeit, da das Implantat nicht in biologisch aktiven festen Kno- chen eingebracht wird, sondern eben in eine nicht resorbierbare Keramik, die wiederum an sich nicht in der Lage ist, das Implantat aktiv zu osseointegrieren. So ist für mich, wie ich schon bereits erwähnte, Cerasorb M im Bereich des Sinusliftes das perfekte Material. Ich mische das Material auch nicht mit autologem Knochen, weil im Bereich des Sinusliftes die osteokonduktive Po- tenz des Materials komplett ausrei- chend ist. Bei der Diskussion, ob man Knochenersatzmaterialien syntheti- schen oder biologischen Ursprungs ver- wenden sollte, gibt es viele Argumente. Ich persönlich denke, wir können Kno- chenersatzmaterialien mittlerweile syn- thetisch herstellen, und das sollten wir auch tun. Meiner Auffassung nach wird darin auch die Zukunft liegen. Indem Behandler synthetische Materialien verwenden, unterstützen sie nicht nur die Industrie, sondern stärken auch gleichzeitig die Forschung, in diese Richtung weiterzuarbeiten. Was ist möglich bei der Arbeit mit Knochenersatzmaterialien? Sind die Erwartungen der Zuweiser an den Chirurgen womöglich zu hoch? Ist alles umsetzbar? Die Frage kann man so pauschal nicht beantworten. Durch die Weiter- entwicklung der Materialien können wir sicherlich sehr vielen Patienten wei - terhelfen. Es ist aber letztendlich eine Frage des Aufwandes. Durch die Kombination von auto- genen Materialien und Knochenersatz- materialien sind wir heute schon in der Lage, hochatrophe Situationen zu be- handeln. Patienten, die jahrzehntelang Vollprothesen getragen haben und bei denen durch die Kieferatrophie keine Prothese mehr hält, können implan - tologisch versorgt werden und unter funktionellen, aber auch unter ästhe - tischen Gesichtspunkten rehabilitiert werden. Das ist sicherlich ein Segen für die Patienten. Aber ich bin mir sicher, dass wir bei diesem Thema noch lange nicht am Ende sind. Abb. links: Zustand nach Implantation mit Sinus-Lift (Cerasorb M) im Oberkiefer beidseitig. Implantation im UK regio 44 und 45. – Abb. rechts:9-Jahres-Kontrolle. Es ist zu erkennen, dass das Knochenregenerationsmaterial weitgehend zu eigenem Knochen umgebaut wurde. 1. Autogene Knochentransplantate, die sowohl intra- als auch extraoral vom selben Individuum gewonnen wer- den. 2. Allogene Knochenersatzmaterialien, d.h. durch verschiedene Verfahren aufbereiteter Knochen derselben Spezies, in unserem Fall also vom Menschen. 3. Xenogene Knochenersatzmaterialien, die tierischen Ursprungs sind, und 4. Künstlich hergestellte alloplas tische Materialien, die somit rein syntheti- scher Provenienz sind. Meiner Auffassung nach spielt auch nach wie vor der autogene Knochen während der Implantation eine wich- tige Rolle, da er eine osseoinduktive Potenz hat. Die Probleme bei der Ver- wendung von autogenem Knochen kennen wir aber auch alle: Er ist eben nur begrenzt verfügbar und bei einer zusätzlichen Entnahme entsteht ein Entnahmedefekt. Wenn wir aber über die Einteilung von Knochenersatzmaterialien reden, meine ich, sollte man auch noch den Aspekt der Resorption berücksichtigen, nämlich die Einteilung in resorbierbare und nicht resorbierbare Materialien. Wichtigster Vertreter der nicht resor- bierbaren Knochenersatzmaterialien ist Bio-Oss, das auch nach wie vor der Marktführer in diesem Bereich ist. Ein wichtiger Vertreter im Bereich der re - sorbierbaren Materialien wäre das rein synthetisch hergestellte Cerasorb M. In meiner Klinik wird von meinen Kollegen und mir bei Sinusliftope - rationen ausschließlich Cerasorb M verwendet. Mit diesem Material sind immer gute und reproduzierbare Er- gebnisse möglich. Dies ist ein Segen für den Patienten, da diesem kein Knochen entnommen werden muss. Es ist jedoch ß-TCP nicht gleich ß- TCP. Die Gruppe der ß-TCP ist zwar unter chemischen Gesichtspunkten gleich, jedoch gibt es bei den anderen Eigenschaften erhebliche Unter- schiede. Einen wichtigen Gesichts- punkt nehmen dabei die Makroporen ein, die bei Cerasorb M eine für die Knochenregeneration ideale Konfi - guration haben. Des Weiteren spielt auch die Größe des Primärkorns eine entscheidende Rolle. Die Größe des Primärkorns hat eine wichtige Funktion bei der Degra- dation des Materials. Wenn der partiku- läre Zerfall des Knochenersatzmaterials beginnt und das Knochenersatzma - terial in seine „kleinsten Bestandteile“ abgebaut wird, entscheidet die Größe des Primärkorns unter anderem mit, ob ein anderer entzündungsfreier Hei- lungsverlauf möglich ist oder nicht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Cerasorb M für mich persönlich definitiv der „Goldstandard“ im Bereich des Sinusliftes ist. Im Bereich der verti- kalen oder gar der horizontalen Aug- mentationen spielt meiner Auffassung nach der autologe Knochen nach wie vor die wichtige Rolle. gemacht werden müssen. Dies wird natürlich die Einsatzmöglichkeiten für Implantate erweitern und letztendlich zu einer Verbesserung der Lebensqua- lität unserer Patienten führen. So tragen Sie als Chirurg gegenüber dem Patienten die Verantwortung, über gewisse Risiken der angewandten Augmentationstechnik aufzuklären? Das ist sicherlich richtig, aber man muss nicht nur über die angewandte Augmentationstechnik aufklären, son- dern den Patienten auch die unter- schiedlichen Möglichkeiten erklären, sodass der Patient im Entscheidungs - findungsprozess mit aktiv einbezogen werden kann. Insofern muss der Patient über wissenschaftlich belegte Therapie- optionen im Kontext seiner individu - ellen Situationen und über die Risiken informiert werden. Bei den Kollegen, die aufbereite- ten Rinderknochen einsetzen, wie z. B Bio-Oss, muss der Patient nochmals gesondert darüber aufgeklärt werden, dass bei ihm aufbereiteter Rinderkno- chen eingesetzt wird. Bei der Verwen- dung von synthetischen Materialien ist eine Aufklärung dahingehend nicht erforderlich. Bei den synthetischen Ma- terialien ist also in dem Sinne nur eine Aufklärung über die einzelnen Thera- pieschritte erforderlich, nicht jedoch über die Herkunft des Materials. Als MKG-Chirurg sind Sie in Ihrer Arbeit nahezu täglich auch mit der Vielen Dank für das Gespräch! DT