4 International Science DENTAL TRIBUNE German Edition · Nr. 3/2014 · 5. März 2014 Die orale Situation beim älteren Patienten von heute und 2020 Mit der Zunahme des Anteils a?lterer Menschen in der Bevo?lkerung ist ein vermehrtes Auftreten von Parodontalerkrankungen bei Patienten in dieser Altersgruppe zu verzeichnen. Daher gilt es als zukünftige Herausforderung, den parodontalen Behandlungsbedarf richtig abschätzen zu können. Von Dr. rer. nat. Birte Holtfreter, Greifswald. Trotz rückläufiger Bevölkerungszahlen ist in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit einem deutlichen Anstieg der deutschen Bevölkerung über 65 Jahre zu rechnen1. Durch zunehmenden Wohlstand, eine bes - sere Ernährung und verbesserte Lebensbe- dingungen könnte es dazu kommen, dass Menschen künftig nicht nur länger leben, sondern auch länger gesund bleiben. Während 2008 noch 20 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt waren, werden es 2030 voraussichtlich fast 30 Prozent und 2050 sogar fast 40 Prozent sein. Insbesondere wird der Anteil der über 80-Jährigen stark zunehmen. Hin- gegen wird es voraussichtlich bis zum Jahr 2030 zu einem Rückgang auf etwa 15 Prozent in der Altersgruppe der unter 20-Jährigen kommen. Parallel dazu ist mit einem deutlichen Anstieg der Pflege- bedürftigen zu rechnen. Während 2005 noch 2,1 Millionen Menschen pflegebe- dürftig waren, werden es 2030 voraus- sichtlich 3,4 Millionen Menschen sein.2 Hinzu kommt, dass das Durchschnitts - alter der pflegebedürftigen Menschen ebenfalls ansteigen und der Anteil der über 80-Jährigen deutlich zunehmen wird. Es erscheint deshalb von enormer Wichtigkeit, die parodontale Prävalenz sowie den parodontalen Behandlungs- bedarf in der älteren Allgemeinbevölke- rung als auch unter Pflegebedürftigen abschätzen zu können. Diese Infor - mationen sind unter anderem für die zukünftige Ressourcenplanung sowie die Abschätzung von Präventionsbedarf notwendig. Um die Entwicklung der parodontalen Prävalenz und Schwere bis 2020 abschätzen zu können, betrachten wir drei für eine Prognose notwendige Aspekte. Dies sind die bisherige Ent- wicklung der parodontalen Prävalenz in Deutschland, die bisherige Entwick- lung in anderen Ländern sowie die Entwicklung und Prognose für verschie- dene parodontale Risikofaktoren. Material und Methoden Die Aussagen zur parodontalen Prävalenz und zu parodontalen Trends basieren auf den Deutschen Mundge- sundheitsstudien und der regionalen Study of Health in Pomerania (SHIP). Die erste Deutsche Mundgesundheits- studie (DMS I) wurde erstmals 1989 in den Bundesländern der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland durchge- führt.3 Nach dem Fall der Mauer wurde 1991 eine weitere Studie in den neuen Bundesländern durchgeführt, um Ver- gleiche hinsichtlich der Mundgesund- heit zwischen den alten und neuen Bundesländern zu ermöglichen.4 Die nachfolgenden Studien DMS III und DMS IV wurden jeweils in den Jahren 19976 und 20056 in Gesamtdeutschland erhoben. In DMS III und DMS IV wur- den unter anderem die Altersgruppen der 35- bis 44- (Erwachsene) sowie 65- bis 74-Jährigen (Senioren) untersucht. Das Untersuchungsprogramm umfasst jeweils ein zahnmedizinisches Inter- view sowie eine zahnmedizinische Untersuchung. Die Erhebung der Son- dierungstiefen und der Attachmentver- lustwerte erfolgte in DMS III halbseitig disease Epidemiology STudy (INVEST)15 liegt für Deutschland für die 55- bis 81- Jährigen eine doppelt so hohe Prävalenz für schwere Parodontitis vor.16 Berück- sichtigt man in einem Regressions - modell die unterschiedliche Verteilung parodontaler Risikofaktoren, verbleibt ein 1,4-fach höheres Risiko für eine moderate oder schwere Parodontitis in SHIP-0, verglichen mit INVEST.16 Trend von Zahnzahl parodontaler Prävalenz und Schwere in den letzten 10 Jahren Innerhalb der letzten 10 Jahre hat sich die Mundgesundheit auch in Deutschland weitestgehend verbessert. Insbesondere in den neuen Bundes - ländern konnten eine Reduktion der Zahnlosigkeit auf 23,3 Prozent (DMS Ost) bzw. 14,7 Prozent (SHIP-Trend) beobachtet werden (Abb. 1a). In den alten Bundesländern blieb der Anteil der zahnlosen Senioren unverändert (von 22,9 auf 23,0 Prozent). Parallel dazu hat die mittlere Zahnzahl bei bezahnten Senioren in den alten (von 14,1 auf 18,3) als auch neuen Bundesländern (von 12,4 auf 16,3) zugenommen (Abb. 1b). Für die CDC/AAP-Definition, welche basierend auf den in DMS III und DMS IV gemeinsam erhobenen approximalen Zahnflächen bestimmt wurde, zeigte sich folgendes Bild (Tab. II) . In den alten Bundesländern ist die Prävalenz der schweren Parodontitis von 13,2 auf 9,8 Prozent abgesunken, während der Anteil moderat erkrank- ter Probanden um 8,2 Prozent (von 42,0 auf 50,2 Prozent) angestiegen ist. In den neuen Bundesländern ist die Prä- valenz der schweren Parodontitis eben- falls um 2,7 Prozent zurückgegangen (von 13,6 auf 10,9 Prozent), während der Anteil moderat erkrankter Probanden um 15,8 Prozent angestiegen ist. Hier war eine Verschiebung zu den modera- ten Parodontitiden zu beobachten. Betrachtet man die Schwere der parodontalen Erkrankung, ist für die alten Bundesländer eine Stagnation der mittleren Sondierungstiefe (von 2,62 auf 2,52 mm) zu beobachten. Ähnliche Verhältnisse finden sich in den neuen Bundesländern (von 2,54 auf 2,45 mm). Ganz anders sieht es für den mittleren Attachmentverlust aus. Die Werte stagnieren in den alten Bundesländern (von 3,80 auf 3,74 mm), zeigen aber in den neuen Bundeslän- dern eine Zunahme um etwa 0,3 mm (von 3,88 auf 4,16 mm). Für SHIP zeigte sich sogar ein weit- aus positiveres Bild (Tab. I). Für die 55- bis 64-Jährigen hat die Prävalenz der schweren Parodontitis um 5 Prozent, überwiegend zugunsten eines höheren Anteils an gesunden oder mild paro- dontal erkrankten Probanden, abgenom - men. Ähnliche Verhältnisse konnten für die 65- bis 74-Jährigen beob achtet werden. Bei den 75- bis 81/83-Jährigen zeigten sich eine Abnahme des Anteils schwer erkrankter Probanden (10,3 Pro - zent) sowie eine deutliche Zunahme des ➟ an zwei Flächen (mesiobukkal, mitt- bukkal), in DMS IV an 12 Indexzähnen an drei Flächen (mesiobukkal, mitt - bukkal, distolingual). Für beide Studien wurde die gleiche parodontale Sonde genutzt (PCP 11.5 WHO probe, M+W Dental, Büdingen). Für den Vergleich zwischen DMS III und DMS IV wurden die parodontalen Variablen basierend auf den in beiden Studien gemeinsam erhobenen Zahnflächen berechnet (Zähne: 11, 16, 17, 44, 46, 47; mesiobuk- kal und mittbukkal). Zum SHIP-Projekt gehören zwei voneinander unabhängige Kohorten- studien – SHIP und SHIP-Trend.7 Zwi- schen 1997 und 2001 wurden insgesamt 4.308 Probanden im Alter von 20 bis 81 Jahren aus der Region Vorpommern innerhalb der Basisstudie (SHIP-0) untersucht.8, 9 In SHIP-Trend wurden von 10.000 eingeladenen Erwachsenen aus der Region Vorpommern7, 10 ins - gesamt 4.420 untersucht. Beide SHIP- Studien beinhalten ein umfangreiches Untersuchungsprogramm, welches auch ein zahnmedizinisches Interview sowie eine zahnmedizinische Unter - suchung einschließt.8–10 Die Erhebung der Sondierungstiefen und der Attach- mentverlustwerte erfolgte halbseitig an vier Flächen (mesiobukkal, mittbukkal, distobukkal, mittlingual/mittpalatinal) unter Verwendung einer parodontalen Sonde (SHIP-0: PCP11; SHIP-Trend: PCP15; Hu-Friedy, Chicago, IL, USA). Die CDC/AAP-Klassifikation11 wurde herangezogen, um die Proban- den nach ihrem parodontalen Schwere- grad in gesund/milde Parodontitis, moderate oder schwere Parodontitis einzuteilen. DMS III und SHIP-0 sowie DMS IV und SHIP-Trend wurden jeweils etwa im gleichen Zeitraum erhoben. Für die DMS-Studien wurden die Analysen teilweise für die alten und neuen Bundes - länder getrennt durchgeführt. Die Ergebnisse Zahnzahl und parodontale Prävalenz und Schwere in Deutschland vor 15 Jahren Basierend auf der DMS III-Studie sind 22,9 Prozent der Senioren in den alten Bundesländern und 34,2 Prozent der Senioren in den neuen Bundes - ländern zahnlos; die mittlere Zahnzahl bei bezahnten Personen lag jeweils bei 14,1 und 12,4 Zähnen. Für die Region Vorpommern lag der Anteil der zahnlo- sen Senioren bei 33,6 Prozent (Abb. 1a); die mittlere Zahnzahl bei bezahn- ten Senioren lag bei 12,1 Zähnen (Abb. 1b). Insbesondere lag ein deutliches Ost-West-Gefälle vor, welches sich durch ei ne geringe Zahnzahl in den neuen Bundesländern ausdrückte (Abb. 1a und b). Verglichen mit anderen ausge- wählten annähernd zeitgleich durchge- führten Studien aus Japan,12 den USA13 und Schweden14 liegt für Deutschland eine deutlich geringere Zahnzahl vor. Anhand der SHIP-Daten zeigt sich für die Prävalenz der Parodontitis ein stimmiges Bild. Legt man die CDC/ AAP-Definition11 zugrunde, waren in SHIP-0 unter den 55- bis 64-Jährigen 47,4 Prozent moderat und 32,7 Prozent schwer parodontal erkrankt (Tab. I). Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter an und erreicht bei 70- bis 81- Jährigen jeweils 47,6 Prozent und 37,0 Prozent. Verglichen mit der ame ri - kanischen Oral INfections and Va scu lar Alter (Jahre) CDC/AAP-Klassifikation SHIP-0 (n = 1.094) SHIP-Trend (n = 1.228) 55–64 65–74 75–81/83* Gesund/milde Parodontitis Moderate Parodontitis Schwere Parodontitis Gesund/milde Parodontitis Moderate Parodontitis Schwere Parodontitis Gesund/milde Parodontitis Moderate Parodontitis Schwere Parodontitis 19,9 % 47,4 % 32,7 % 14,4 % 50,2 % 35,4 % 15,4 % 47,6 % 37,0 % 28,0 % 44,4 % 27,6 % 19,0 % 49,8 % 31,2 % 10,0 % 63,3 % 26,7 % SHIP-0: 75–81 Jahre; SHIP-Trend: 75–83 Jahre. Befundschema: Half-mouth, vier Flächen (mesiobukkal, mittbukkal, distobukkal, mittlingual/mittpalatinal) Tabelle I:Prävalenz der Parodontitis (%) nach der CDC/AAP-Fallklassifikation für 55- bis 83-jährige Probanden in SHIP-0 und SHIP-Trend. Region CDC/AAP-Klassifikation DMS III (n = 610) DMS IV (n = 672) Alte Bundesländer Neue Bundesländer Gesund/milde Parodontitis Moderate Parodontitis Schwere Parodontitis Gesund/milde Parodontitis Moderate Parodontitis Schwere Parodontitis 44,8 % 42,0 % 13,2 % 50,9 % 35,6 % 13,6 % 40,0 % 50,2 % 9,8 % 37,7 % 51,4 % 10,9 % Befundschema: Zähne 11–16–17–44–46–47, mesiobukkale Fläche. Tabelle II:Trend von Parodontalerkrankungen (%) nach der CDC/AAP-Falldefinition für 65- bis 74-jährige Probanden der DMS III und DMS IV.