8 | www.kn-aktuell.de WISSENSCHAFT & PRAXIS Nr. 7/8 | Juli/August 2009 Sind preisgünstige NiTi-Bögen praxistauglich? Kraft (N) 2,5 2 1,5 1 0,5 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 Auslenkung (mm) 0,014˝ heat activated NiTi (NiTi4U) 0,014˝ Tensic (DENTAURUM Inc.) 0,014˝ Tensic (DENTAURUM Inc.) Abb. 2: Grafische Darstellung der Ergebnisse des 3-Punkt-Biegeversuches von 0.014“ hitze-aktiviertem NiTi „HA NiTi“ der Fa. NiTi4U (grün) und dem 0.012“ hitze-aktivierten NiTi-Bogen „Tensic“ der Fa. DENTAURUM Inc. (rot). Das Kraftplateau beim HA NiTi ist im Hinblick auf die klinische Kraftabgabe deutlich günstiger. Fortsetzung von Seite 1 Eigenschaften Nitinol-Bögen zeichnen sich durch die sogenannte Marten- sit-Austenit-Umwandlung und dem damit verbundenen Formgedächtnis-Effekt aus, der bei Temperaturen unter 50 °C stattfindet und damit bio- logisch nutzbar ist. Martensit und Austenit sind temperatur- abhängige Phasen einer Le- gierung mit unterschiedli- chem Gefüge und daraus re- sultierenden mechanischen Eigenschaften. In der marten- sitischen Phase (bei niedrigen Temperaturen) ist Nitinol plas- tisch verformbar. In der auste- nitischen Phase (bei höheren Temperaturen) ist es elastisch. Ein klinisch „idealer“ Draht hängt damit werkstoffkund- lich von der Aktivierungstem- peratur ab, bei der ein reines austenitisches Gefüge vor- liegt und das Formgedächtnis vollständig „aktiviert“ ist. Kraft (N) 1,2 0,9 0,6 0,3 0,0 0,54 0,57 0,58 0,65 0,46 0,27 0,10 0,12 0,5 mm 1 mm 2 mm 3 mm 0.012˝ HA NiTi 0.012˝ SE NiTi Abb. 3: Direkter Vergleich der Kraftniveaus von superelastischem (SE NiTi U) und hitze-aktiviertem 0.012“ NiTi-Bögen (HA NiTi) der Fa. NiTi4U. Der HA NiTi-Bogen weist deutlich niedrigere Kraftniveaus auf und ist da- her für die initiale Nivellierung bei ausgeprägtem Engstand ideal. Kraft (N) 3,18 2,84 3,23 3,24 3,24 3,03 3,58 3,58 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0 0,5 mm 1 mm 2 mm 3 mm 0.016˝ x 0.022˝ SE NiTi 0.016˝ x 0.022˝ Rematitan „lite“ 0.016˝ x 0.022˝ Rematitan „lite“ Abb. 4: Direkter Vergleich der Kraftniveaus von SE NiTi (Fa. NiTi4U) und superelastischem Rematitan „lite“ (Fa. DENTAURUM Inc.) in der Dimension 0.016“x 0.022“. Zwischen den Bögen gibt es keine signifikanten Unterschiede. Kraft (N) 5,07 5,07 4,84 4,79 4,63 4,46 4,12 4,16 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0 Vermeintlich „gute“ moderne NiTi-Bögen weisen eine fast gleichmäßige Kraftlinie auf, sodass die resultierende Kraft- abgabe relativ konstant ist. Bei der werkstoffkundlichen Tes- tung spricht man in der Entlas- tungsphase von einem soge- nannten „Plateau“. Je geringer das Kraftniveau ist,umso scho- nender ist die Zahnbewegung. Nach jüngsten Erkenntnissen muss das Plateau aber nicht absolut horizontal verlaufen, da kontinuierliche Kräfte im Vergleich zu langsam abneh- menden Kräften über die Ak- tivierungsstrecke die Gefahr von Wurzelresorptionen er- höhen können. Zusammen- fassend kann man also sagen: }Nitinol appliziert bei gleicher Auslenkung wesentlich ge- ringere Kräfte als Stahl. }Nitinol zeigt nur einen mo- deraten Kraftzuwachs bei zunehmender Auslenkung. }Nitinol ermöglicht größere Biegewinkel. }Nitinol hat ein extrem gerin- ges Korrosionspotenzial und daher eine hohe Biokompati- bilität. Die von unterschiedlichen Niti- nolbögen abgegebenen Kräfte unterscheiden sich nicht nur im Vergleich zu Stahl, sondern auch untereinander erheblich. Ohne spezielle Kenntnisse sind diese für den Anwender prak- tisch nicht erkennbar. Nach der neuen ISO-Norm 15841 sind die Hersteller zwar verpflichtet,ge- normte Angaben zu machen. Dies ist aber bisher noch nicht sehr verbreitet. Nomenklatur Nitinol ist physikalisch gese- hen nicht elastisch, sondern pseudoelastisch. Da der klini- sche Sprachgebrauch in der Kieferorthopädie nicht im- mer naturwissenschaftlichen Grundlagen folgt, haben sich in den letzten Jahren folgende Begriffe in der tägliche Praxis „eingebürgert“: }Superelastische NiTi-Bögen (Synonyme: NiTi-Bögen, NiTi Standard, NiTi Classic) }Hitze-aktivierte NiTi-Bögen (Synonyme: NiTi-Thermo- bögen, thermoaktive NiTi- Bögen, martensitische NiTi- Bögen). Leider wird diese Nomenklatur im Handel nicht immer kon- sequent eingehalten. Manche Hersteller verwenden den Be- griff „superelastisch“ generell Kurzvita für alle modernen NiTi-Bögen. Andere wiederum bezeichnen nur die Bögen mit dem gerings- ten Kraftniveau als „superelas- tisch“. Werbeversprechen wie „Ideal Force“, „thermisch“, „thermo memory“, „superelas- tisch“, „low force“ lassen nur schwer einen Schluss auf die eigentlichen Eigenschaften dieser Bögen zu. Nitinolbögen mit gleichen Ab- messungen können unter- schiedlich biegesteif sein.Ver- gleiche zwischen Herstellern scheitern häufig daran, dass selten Angaben über die Be- dingungen gemacht werden, unter denen diese Werte er- mittelt wurden. Deswegen wurde die DIN ISO 15841 er- stellt, in der die Prüfwerte und -bedingungen festlegt wur- den. Wenn in Zukunft bei Untersuchungen von Nitinol- bögen konsequent auf die ISO 15841 Bezug genommen wird, können Bögen verschiedener Hersteller erstmalig mitei- nander verglichen werden. Material und Methode In der vorliegenden Pilotstu- die wurden sowohl superelas- tische als auch hitze-akti- vierte NiTi-Bögen der Firmen DENTAURUM Inc. (USA) und NiTi4U (Deutschland) untersucht. Im Einzelnen ge- langten folgende Drähte zur Anwendung: DENTAURUM Inc. 0.0120 Rematitan „lite“ (super- elastischer NiTi-Bogen) 0.0140 Rematitan „lite“ (super- elastischer NiTi-Bogen) 0.016 x 0.0220 Rematitan „lite“ (superelastischer NiTi-Bogen) 0.017 x 0.0250 Rematitan „lite“ (superelastischer NiTi-Bogen) 0.0120 Tensic (hitze-aktivierter NiTi-Bogen) 0.0140 Tensic (hitze-aktivierter NiTi-Bogen) 0.016 x 0.0220Tensic (hitze-ak- tivierter NiTi-Bogen) 0.017 x 0.0250Tensic (hitze-ak- tivierter NiTi-Bogen) NiTi4U 0.0120 SE NiTi (superelasti- scher NiTi-Bogen) 0.0140 SE NiTi (superelasti- scher NiTi-Bogen) 0.016 x 0.0220 SE NiTi (super- elastischer NiTi-Bogen) 0.017 x 0.0250 SE NiTi (super- elastischer NiTi-Bogen) 0.0120 HA NiTi (hitze-akti- vierter NiTi-Bogen) 0.0140 HA NiTi (hitze-akti- vierter NiTi-Bogen) 0.016 x 0.0220 HA NiTi (hitze- aktivierter NiTi-Bogen) 0.017 x 0.0250 HA NiTi (hitze- aktivierter NiTi-Bogen) Die 3-Punkt-Biegeversuche wurden an einer United Test Machine (Modell SSTM-1, Uni- ted Calibration Corp.,Hunting- ton Beach, CA, USA) durch- geführt. Beim 3-Punkt-Biege- versuch wird die Prüfprobe auf zwei Auflagen positioniert und in der Mitte mit einem Prüf- stempel belastet.Das Versuchs- protokoll entsprach den Vor- gaben der DIN ISO 15841: Die Länge der Drahtstücke betrug 30 mm, der Abstand der zwei äußeren Punkte war 10 mm,der Ansatz der Auslenkung der Drähte erfolgte zentral und die rechtwinkeligen Bögen wurden über die schmale Seite getestet. Die Geschwindigkeit des Prüf- stempels betrug 7,5 mm/Mi- nute. Alle Untersuchungen er- folgten bei 36°C. Die Drähte wurden initial auf 3,1 mm aus- gelenkt und anschließend die Kräfte in der Deaktivierungs- phase bei 3, 2, 1 und 0,5 mm registriert. Ergebnisse Die grafische Darstellung der Ergebnisse der 3-Punkt-Biege- versuche an runden NiTi-Bö- gen zeigte, dass die preisgüns- tigen Bögen der Fa. NiTi4U für die klinische Anwendung entweder günstigere (Abb. 1) oder identische Kraftniveaus (Abb. 2) abgeben. Der direkte Vergleich von superelastischen (SE NiTi) und hitze-aktivierten Bögen (HA NiTi) konnte ein- drucksvoll nachweisen, dass durch die kombinierte Aus- wahl „SE versus HA“ und „Bo- gendurchmesser“ für den indi- viduellen Patienten mit unter- schiedlichem Ausmaß an Engständen jeweils optimale Kräfte in der Nivellierungs- • 1991 Lehrer der „Akademie Praxis und • 14 nationale und internationale For- Wissenschaft” • 1992 Habilitation • 1992 Oberarzt und stellv. Abteilungs- direktor der Abt. KFO in Kiel • 1993 Visiting Professor, University of Manitoba in Winnipeg (Kanada) schungs- und Posterpreise • Geladener Hauptreferent auf zahl- reichen nationalen und internatio- nalen wissenschaftlichen Kon- gressen • 1996 Ernennung zum apl. Professor an Gegenwärtige Tätigkeiten der Universität Kiel • 05/97 bis 06/98 Visiting Professor an der Harvard Medical School, Boston (USA) • 05/97 bis 06/00 Visiting Professor an der Harvard School of Dental Medi- cine, Boston (USA) • 07/98 bis 06/00 Research Associate im Laboratory for Musculoskeletal Disor- ders an der Boston University, Boston (USA) • Autor Farbatlanten der Zahnmedizin „Funktionsdiagnostik und Therapie- prinzipien“ (Band 12, Thieme; übersetzt in 7 Sprachen) • Internationaler Referent (Themen- schwerpunkte DVT, KFO sowie Funk- tionsdiagnostik/-therapie) • seit 2000 Clinical Professor am Dept. of Craniofacial Sciences and The- rapy, University of Southern Califor- nia, Los Angeles (USA) • seit 2000 Kieferorthopädische Ge- meinschaftspraxis in Berlin • seit 2002 Vizepräsident Advanced Dental Imaging in Las Vegas und Palm Desert (USA) • seit 2006 Geschäftsführer MESANTIS – 3D-Röntgenprofis GmbH phase eingesetzt werden kön- nen (Abb. 3).Von daher gibt es nicht eine generelle Empfeh- lung „immer SE NiTi“ oder „immer HA NiTi“. Auch bei den rechtwinkeligen NiTi-Bö- gen zeigten die preisgünstigen Produkte entweder günstigere (Abb. 5) oder identische Kraft- niveaus (Abb. 4). Zusammenfassung Wenn preisgünstige NiTi-Bö- gen bessere oder die gleichen werkstoffkundlichen Eigen- schaften wie teurere NiTi-Bö- gen von sogenannten Marken- herstellern aufweisen, können sie gerade unter dem zuneh- menden Zwang zur Wirtschaft- lichkeit in der täglichen Pra- xis klinisch sinnvoll eingesetzt werden. Adresse Prof. Dr. James Mah Prof. Dr. Axel Bumann Dept. of Craniofacial Sciences and Therapy USC School of Dentistry 925 W 34 St. #312 Los Angeles, CA 90089-0641 USA E-Mail: jamesmah@usc.edu E-Mail: bumann@usc.edu Kurzvita Prof. Dr. James Mah • Associate Clinical Professor an der University of Southern California und University of Nevada, Las Vegas • Direktor des Redmond Imaging Center der USC • Direktor des Craniofacial Virtual Reality Laboratory der USC • Bachelor of Science, Promotion (Dental Surgery), Master of Science sowie Spezialisierung im Fach Kie- ferorthopädie an der University of Alberta, Kanada • Studium und Promotion (Medical Science) an der Harvard Medical School • Post-Doctoral Fellowship am De- partment of Orthopaedics, Children’s Hospital, Boston • derzeitiger Forschungsschwerpunkt: Erschaffung virtueller dreidimensio- naler kraniofazialer Patienten, an de- nen Diagnose, Behandlungsplanung sowie Simulationen durchgeführt werden können Prof. Dr. Axel Bumann • 1980–1985 Studium der Zahnmedizin 0,5 mm 1 mm 2 mm 3 mm in Kiel 0.017˝ x 0.025˝ SE NiTi 0.017˝ x 0.025˝ Rematitan „lite“ 0.017˝ x 0.025˝ Rematitan „lite“ Abb. 5: Direkter Vergleich der Kraftniveaus von SE NiTi (Fa. NiTi4U) und superelastischem Rematitan „lite“ (Fa. DENTAURUM Inc.) in der Dimension 0.017“x 0.025“. Der „SE NiTi“-Bogen wies signifikant niedrigere Kraftniveaus auf. • 1986–1989 Fachzahnarztausbildung „Oralchirurgie“ in Kiel • 1988 Promotion • 1989–1992 Fachzahnarztausbildung „Kieferorthopädie “ in Kiel