Nr. 7+8 | Juli/August 2013 WISSENSCHAFT & PRAXIS | 3 Bisskraft, Stabilität und FKO-Apparaturen Fortsetzung von Seite 1 Die Interkuspidation kommt ins Spiel, wenn sich die Zähne in Okklusion befinden, vorrangig während des Essens und Schlu- ckens, wobei Kräfte der Kaumus- kulatur und Weichgewebe für die Umsetzung dieser Funktionen wichtig sind. Insofern stellt die funktionelle Kapazität der Kaumuskulatur ei - nen Faktor dar, der die Stabilität der Behandlungsergebnisse nach Therapie mittels FKO-Appara - turen beeinflussen kann. Diese Muskeln, welche direkt in den Ak- tionsmodus der funktions -kie fer - orthopädischen Apparatur in vol - viert sind, könnten somit auch ei - ne Rolle bei der Beeinflussung der Effekte nach erfolgter Behand- lung spielen, wenn die FKO-Ap- paratur weggelassen wird. Ziel dieser Studie war es, den Vorhersagewert der funktionel- len Kapazität der Kaumuskula- tur vor Behandlung zu ermit- teln, welcher anhand der ma - ximalen molaren Bisskraft, den Veränderungen sowie am Rezi- divpotenzial nach erfolgter The- rapie mittels FKO-Apparaturen bei Kindern mit Malokklusion der Klasse II/1 bewertet wurde. Material und Methoden Probanden 28 Kinder im Wechselgebiss mit einer Malokklusion der Klasse II/1 wurden anhand der folgenden Kri- terien ausgewählt: das Vorhan- densein einer skelettalen Klasse II- Beziehung (ANB > 4°), ein retro- gnather Unterkiefer (SNB ≤ 78°), eine distal-molare Beziehung von mindestens einer Prämolaren- höckerbreite auf der einen Seite und einer halben Prämolaren- höckerbreite auf der anderen Seite und ein Overjet von ≥ 6 mm. ) N ( e c r o f m u m i x a M p=0.030 p=0.039 1.000 p=0.037 p=0.021 p=0.011 600 400 200 0 T1 T2 T3 Molar bite force Finger force ) N ( e c r o f e t i b r a l o m l a m i x a m t n e m t a e r t - e r P 750 500 250 0 810 583 375 600 495 290 n=15 no relapse n=13 relapse Abb. 2: Messungen der maximalen Molarenbisskraft und Fingerkraft bei den untersuchten Patienten. Die Balken zeigen die Durchschnittswerte, während die Whisker für die Standardabweichungen für die jeweiligen Zeiträume (T1, T2, T3) stehen. Außerdem werden die P-Werte für die Unterschiede der maximalen Molarenbisskraft und Fingerkraft zwischen den verschiedenen Zeiträumen gezeigt. – Abb. 3: Boxplots der maximalen Molarenbisskraft vor Behandlung der stabilen (kein Rezidiv) und instabilen (Rezidiv-)Gruppen. Die Kästen in den Boxplots zeigen das untere Quartil, den Median und das obere Quartil. Die Whisker geben die niedrigsten Werte, die beobachtet wurden, an (Minimum) sowie die höchsten beobachteten Werte (Maximum). Die Größe der Versuchsgruppe wird durch n angezeigt. Der P-Wert für den unabhängigen Sample-T-Test, der die maximale molare Bisskraft der zwei Gruppen vergleicht, wird ebenfalls angegeben. Behandlungsverfahren und experimentelles Design Die Kinder wurden mit einem Aktivator nach Schwarz8 für ei- nen Zeitraum von etwa ein bis zwei Jahren behandelt und für ein weiteres Jahr nach erfolgter Behandlung beobachtet. Vor der Therapie (T1), nach der Thera- pie (T2) sowie nach dem Beob- achtungszeitraum im Anschluss an die Behandlung (T3) wurden Messungen der Höhe, der maxi- malen Molarenbisskraft,9 der ma - ximalen Fingerkraft sowie ein laterales Cephalogramm durch- geführt (Abb. 1) und Abdrücke für Studienmodelle genommen. An den Studienmodellen wurden Overjet, Overbite und die mola- ren Beziehungen gemessen. Die molare Beziehung wurde als ein Prozentsatz der Angle-Klas- se II-Beziehung festgehalten.10 Au ßer dem wurde das Stadium der Zahnentwicklung verzeich - net.11 Stabilität Für die Evaluation der Stabi- lität nach Behandlung wurden die Patienten in zwei Gruppen (stabil und instabil) aufgeteilt. Fälle mit einer Verlagerung hin zu einer Klasse II-Molarenbezie- hung und mit einer Verstärkung des Overjets nach Behandlung wurden als instabil betrachtet, während Fälle nach Behandlung oh ne Rezidiv des Overjets oder der Molarenbeziehung als stabil eingestuft wurden. Statistik Eine statistische Analyse wurde mittels SPSS durchgeführt, eben so eine Fehleranalyse der Methode. Ergebnisse Dentale Entwicklung Zum Zeitpunkt T1 waren alle Kinder in der Phase des Wechsel- gebisses, entweder in der Spät- phase (n = 20) oder in der Früh- phase (m = 8). In T2 befanden sich elf der Kinder in der Spätphase des Wechselgebisses und 17 be- saßen bereits bleibende Zähne. Bisskraft und Veränderungen der Fingerkraft (Abb. 2) Während der Behandlung (T2– T1) verstärkte sich die maximale Molarenbisskraft, während sie sich nach erfolgter Behandlung (T3–T2) wieder verringerte und fast die Werte vor der Behand- lung erreichte. Die Fingerkraft, welche die allgemeine Muskel- kraft des Körpers repräsentiert, verstärkte sich progressiv wäh- rend und nach der Therapie. Dentale und skelettale Ver änderungen (Tabelle 1) Die beobachteten Veränderungen nach durchschnittlich 1,6 Jahren Therapie mittels funktionskiefer - orthopädischer Apparatur zeich- neten sich durch eine Erhöhung des SNB und eine Verringerung des ANB, eine Verringerung des intermaxillären Winkels, Retro- klination der oberen und Pro - klination der unteren Schneide- zähne, eine Verringerung des Overjets und eine Verbesserung der molaren Beziehungen aus. Die Reaktion innerhalb von durchschnittlich 2,2 Jahren nach Behandlung variierte. Einige Kin- der zeigten ein Rezidiv in Form einer Verlagerung hin zu einer Klasse II-Molarenbeziehung und eines verstärkten Overjets, wäh- rend andere kein Rezidiv oder eine Verbesserung während der Nachbehandlungsphase auf- wiesen. Statistisch signifikante Verände- rungen der Nachbehandlungs- phase waren: Schließen des man- dibulären, intermaxillären und gonialen Winkels sowie die Retro - klination der unteren Schneide- zähne. Stabile und instabile Gruppen Zum Zeitpunkt der Aufteilung bestanden die stabile Gruppe aus 15 Patienten und die instabi - le aus 13 Patienten. Die instabile Gruppe zeigte eine durchschnitt- liche Verstärkung des Overjets von 1,4 mm (SD 0,9 mm) und ein Rezidiv der molaren sagittalen Beziehung hin zu einer Klasse II- Situation um 18,3 % (SD 10,4 %) auf. Hinsichtlich Geschlecht, Sta- dium der Zahnentwicklung, Al- ter, Dauer von Behandlung und Nachbehandlung, Größe und Grö - ßenveränderungen wurden kei - ne signifikanten Unterschiede zwi schen den beiden Gruppen festgestellt. Fälle, die als stabil eingeschätzt wurden, zeigten eine signifikant höhere maximale Molarenbiss- kraft vor Behandlung (T1) als die instabile Gruppe (Abb. 3). Beim Fortsetzung auf Seite 4 Cephalometrische und dentale Eigenschaften der Patientengruppe Sagittal (Cephalometric) SNA (°) SNB (°) ANB (°) Vertical (Cephalometric) ML/NSL (°) NL/NSL (°) ML/NL (°) Gonial Angle (Ar-Go-Me) (°) Dental (Cephalometric) IU/NL (°) IL/ML (°) Dental (Study Models) Overjet (mm) Overbite (mm) Left Molar Relationship (% Class II) Right Molar Relationship (% Class II) Average Molar Relationship (% Class II) T1 Mean SD T2 Mean SD T3 Mean SD T2–T1 Mean SD P T3–T2 Mean SD P 81,3 75,4 5,9 32,8 7,0 26,0 123,5 112,8 98,4 8,6 3,2 85,5 84,7 85,1 2,9 2,9 1,5 4,8 2,4 4,0 4,6 4,9 5,2 1,2 1,7 28,0 24,7 20,1 81,0 76,5 4,5 32,6 7,6 25,0 123,9 108,3 99,6 4,4 2,7 30,6 23,4 27,0 2,9 2,9 1,8 5,1 2,3 4,4 5,1 4,7 5,0 1,3 1,2 27,2 27,3 23,1 81,3 76,7 4,7 32,2 7,5 24,7 122,4 108,4 97,8 4,7 3,0 34,6 25,0 29,8 3,2 3,1 2,0 5,6 2,6 4,8 4,7 5,8 4,7 1,2 1,4 30,2 31,6 26,6 –0,3 1,1 –1,4 –0,2 0,6 –1,0 0,4 –4,5 1,2 –4,2 –0,5 –54,9 –61,3 –58,1 1,3 1,1 0,9 1,4 1,6 1,8 2,2 4,3 3,9 1,8 1,0 40,0 34,1 31,0 0,641 <0.001*** <0.001*** 0,274 0,069 0.018* 0,306 <0.001*** 0.041* <0.001*** 0.008** <0.001*** <0.001*** <0.001*** 0,3 0,2 0,2 –0,4 –0,1 –0,3 –1,5 0,1 –1,8 0,3 0,3 4,0 1,6 2,8 1,1 1,2 1,0 1,6 2,2 1,6 2,6 4,0 3,6 1,3 0,8 28,9 26,6 22,8 0,898 0,440 0,840 0.010* 0,690 0.006** 0.001** 0,704 0.022* 0,196 0,074 0,444 0,989 0,495 Tabelle 1: Abweichungswerte im Durchschnitt und Standard (SD) der gemessenen cephalometrischen und dentalen Variablen werden für jeden Zeitabschnitt (T1, T2, T3) sowie für Veränderungen während der Behandlung (T1 bis T2) und nach Behandlung (T2 bis T3) angegeben. Die P-Werte (P) beziehen sich auf die paarweise ausgeführten T-Tests. P<0,05 gilt als signifikant. *P<0.05; ** P<0.01; *** P<0.001.