30 | www.kn-aktuell.de EVENTS Nr. 7+8 | Juli/August 2015 Adipöse Kinder – welche Probleme, welche Lösungen? 6. Gemeinschaftskongress Kinder – Zahn – Spange in Frankfurt am Main. Der Anteil adipöser Kinder in der Gesellschaft entspricht dem An- teil dieser Kinder in den Praxen der Kinderzahnärzte und der Kie - ferorthopäden. Da stellt sich die Frage: Was bedeutet das für Prä- vention und Therapie, und wie kann man diesen Kindern hel- fen? Was müssen Eltern wissen, wenn sich Adipositas hinderlich auf die Behandlung auswirken kann? Diesen Fragen widmete sich der 6. Gemeinschaftskon- gress Kinder – Zahn – Spange (eine Initiative von DGKiZ, BuKiZ, BDK, IKG) Ende April 2015 in Frankfurt am Main, traditionell unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski (Charité). „In der Kieferorthopädie arbei- ten wir mit dem Gewebe“, sagte Dr. Gundi Mindermann, stellver- tretende IKG-Vorsitzende, zur Er- öffnung, „dafür brauchen wir ei - ne gesunde Gewebereaktion. Bei Adipositas scheint es dabei Stö- rungen zu geben. Das ist ein noch neuer Aspekt in unserem Fach. Wir sind gespannt, was un- sere Referenten uns mit auf den Weg in die Praxis geben wer- den!“ Das untermauerte Kinder- zahnärztin Dr. Monika Prinz- Kattinger, Mitglied des Vorstands bei BuKiZ: „Auch in unseren Pra- xen sehen wir diese Entwicklung. Aber bedenken wir bitte: Es geht nicht nur um die Zähne, sondern um das ganze Kind!“ hörten heute zum Alltag – oft ohne gesicherte Fundamente. Auch das kulturelle Bild habe sich gewan- delt. Verändert hätten sich auch der Bewegungsradius der Kinder und das Setting für kindgerech- tes Austoben. Die WHO definiere Adipositas mittlerweile als Krank- heit, da sich negative Konsequen- zen auf viele gesundheitliche Be- reiche des Menschen bestätigt hätten, nicht zuletzt rund um den Mund. Solche und weitere As- pekte seien daher Thema dieses Kongresses. Verändertes Timing Beispiele von Zusammenhängen von Adipositas/Mundgesundheit vermittelte Dr. Julia von Bremen (Universitätsklinikum Gießen). Schon 1977 habe der SPIEGEL Auch in den Hochschulen fielen diese Kinder auf: „Ich hatte bis- lang durchaus den Eindruck: Es klappt bei adipösen Kindern mit der Kieferorthopädie nicht alles wie geplant“, berichtete Profes- sor Radlanski, der auch in das Thema einführte, und bekannte, wenig Literatur zu Zusammen- hängen von Adipositas und Kin- dermundgesundheit gefunden zu haben. So gebe es schon allein auf die Frage, was bei Essgewohn- heiten „normal“ sei und wann Essstörungen vorliegen, kaum überzeugende Daten. Diäten ge- mit dem Titelthema „Deutsch- lands Kinder überfüttert“ auf die ungesunde Entwicklung hinge- wiesen. Zu der Zeit habe es aber noch keine Computer und man- gelnde Bewegung gegeben, da- mals habe der Zucker im Fokus der Ursachenanalysen gestanden. Sie stellte drei Kinder in Fallprä- sentationen vor, die alle adipös waren – und dennoch enorm un - terschiedlich. Zu den Punkten, die diese Kinder verbanden: „Die Kinder sind rund ein halbes Jahr früher im Zahnwechsel – man muss sie für die Kieferorthopä- Diskussionsrunden unter den Experten und mit dem Publikum sind fester Bestandteil des Programms bei Kinder–Zahn–Spange: Unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Ralf. J. Radlanski (2. v.l.) debattierten auf diesem Podium (v.l.n.r.) Dr. Gundi Mindermann, Dr. Julia von Bremen, Dr. Monika Prinz-Kattinger und Prof. Dr. Annette Wiegand. rung und dem Zustand des Darms zu denken. Während die Wissenschaft noch viele Antworten schuldig ist, wa - rum es zu Adipositas kommt, muss die Praxis reagieren. Als Beispiel für eine solche Maß- nahme stellte Dr. med. Ulrich Schäfer (Mannheim) das kürz- lich ausgezeichnete Projekt „Obeldicks“ vor – und bürokra- tische Hürden für praktische Hilfe. Nach den zurückliegen- den Vorträgen sei ihm klar ge- worden, dass sich die Berufs- gruppen enger vernetzen müs- sen. „Wir haben mit enormen Fallzahlen zu tun“, sagte er, „und die GKV zahlt erst, wenn die Kinder quasi am Ende sind. Sol- len wir so lange warten?“ Bü - rokratie und Vergütung seien sehr hinderlich. Obeldicks baue auf individuelle Motivation und Spielfreude – evidenzbasierte Standards gebe es nicht. Man müsse die Kinder ohne Schuld- zuweisungen ernst nehmen. Es gehe, obwohl die Kassen das anders sähen, nicht um eine Re- duzierung des BMI, sondern um Aufbau von Selbstbewusstsein und Wissen. Sein Plädoyer: „Je- der von uns kann als Multipli- kator wirken!“ Einen großen Teil des Programms des Gemeinschaftskongresses Kinder – Zahn – Spange nehmen die Diskussionen auf dem Po- dium und mit dem Publikum ein. Oft gehörter Punkt: Wie spricht man Eltern an? Die Erfahrung aller: Eltern fühlen sich diskri- miniert oder gar beleidigt. Deut- lich wurde, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Auf- gabe handele, wenn man Adi - positas bei Kindern reduzieren will, und dass neben der Verhal- tensprävention, die rasch an ihre Grenzen kommt, der Verhält- nisprävention die größere Auf- gabe zukommt. Angebote wie Chips und Cola an den Schulen müssten verhindert, intensive Betreuung z. B. durch „Schul- schwestern“ („Eltern zu Arzt- besuchen verpflichten“) aufge- baut werden. Die Einflüsse von Adipositas nicht nur auf Seele und Allgemeingesundheit der Kinder, sondern auch auf die Mundgesundheit seien erheb- lich und sollten daher zu einer vernetzten Aktion von Kinder- ärzten, speziellen Projekten und Kinderzahnärzten/Kieferortho- päden führen. Erste Schritte da- hin, so das Resümee, sind mit dem Kongress bereits gemacht worden. Adresse Initiative Kiefergesundheit e.V. (IKG) Ackerstraße 3 10115 Berlin Tel.: 030 246321-33 Fax: 030 246321-34 info@ikg-online.de www.ikg-online.de die also rechtzeitig erwischen.“ Adipöse Kinder hätten zudem ein höheres Risiko für Parodon- topathien: „Das sollte uns auf- merken lassen!“ Studien hätten einen Einfluss des erhöhten Über- gewichtes auf den Knochenme- tabolismus gezeigt, nicht zuletzt auf den Kalziumstoffwechsel: „Milchprodukte scheinen adi- pösen Kindern beim Abspecken zu helfen.“ Die Zellforschung zeige: „Knochen adipöser Kin- der muss geradezu anders re - agieren als derjenige gesunder Kinder.“ Studien zeigten zudem eine oft verlängerte Behandlungszeit, auch weil betroffene Kinder „deutlich weniger kooperieren“. Was sie nicht bieten könne, so die Referentin, seien Lösungen – aber es sei wichtig, sich der Besonderheiten bewusst zu sein und sie schon in der Planung zu beachten. Es sei wünschenswert, so ihre Bitte an ihre Kolleginnen und Kollegen, „mehr mitzuma- chen bei der Forschung: Neh- men Sie doch bitte in der Anam- nese bereits standardisiert Grö - ße und Gewicht des Kindes mit auf. Auf solchen Daten können wir aufbauen!“ Folgeerkrankungen Welche Auswirkungen Ernäh- rungsstörungen auf die Mund- gesundheit haben, und hier spe- ziell die Adipositas, beleuchtete Prof. Dr. Annette Wiegand (Göt- tingen). „Das Fettgewebe ist metabolisch hochaktiv“, sagte sie, „und hat Einfluss auf den Entzündungsstatus, neben dem parodontalen Bereich sind auch die Speicheldrüsen betroffen.“ Dies wiederum habe Auswir- kungen auf die Speichelpuffer- qualität und die Demineralisa- tion. Beobachtet wurde auch ein höheres Risiko für Frontzahn- traumata: „Die Kinder stürzen leichter, weil ihr Gleichgewichts- sinn nicht so ausgeprägt ist.“ Neben einigen weiteren Zusam - menhängen verwies sie ergän- zend auf die Bedeutung des so- zioökonomischen Faktors, der die gegebene gesundheitliche Situation oft verschärfe. Bereits im Kleinkindalter zeige sich, so Endokrinologin Prof. Dr. Antje Körner (Leipzig), ob das Kind adipös werde und dies in der Regel auch bis ins Erwach- senenalter bleibe. Ihre Mortali - tät rund um den 40. Geburtstag sei aufgrund von Folgeerkran- kungen deutlich erhöht. Adipö - se Kinder hätten doppelt so vie le Fettzellen wie Normalgewich- tige, öfter Bluthochdruck und Einschränkungen in der Herz- frequenz. Die Bilanz von zuge- führter und verbrauchter Ener- gie sei gestört. Welche Rolle die Ernährung bei Adipositas im Kindesalter spiele, sei nicht wirk- lich geklärt. Es spreche einiges für ein Übermaß an zugeführten Kohlenhydraten, nicht zuletzt über Getränke. Kinder wüssten recht gut Bescheid, was gesund ist und was nicht – letztlich ba- siere ihre Ernährung aber auf dem Nachahmungsverhalten. Ernährungserziehung habe sich dagegen als kontraproduktiv er- wiesen. Auch die Rolle der Bewe- gung werde diskutiert: Bewe- gungsarmut („vor dem Fernseher sind Kinder fast paralysiert“), wenn kombiniert mit falschem Essverhalten, lasse das Adiposi- tasrisiko steigen, aber nicht so stark wie vermutet. Ein überge- wichtiger Körper brauche auch mehr Aufwand für Bewegung. 40 bis 80 % der adipösen Kinder hätten ihre Veranlagung geerbt – die biologischen ebenso wie die gesellschaftlichen Faktoren. Netzwerke: Körper und Gesellschaft Zu den biologischen Netzwerken im Bereich Ernährung und Mund- gesundheit gehört das Zusam - menspiel von Darm und Mund, wie Dr. Andrea Diehl (Berlin) an vielen Beispielen erklärte. Das Zusammenspiel habe Konse - quenzen für die Therapie: „Chro - nische Schmerzen muss man oft am anderen Ende bearbeiten – akute am Ort des Geschehens.“ Der Darm mit seinen rund 500 Quadratmetern Oberfläche sei auch für Übergewicht mitver- antwortlich: „Er muss entschei- den, was er durchlässt und was nicht.“ Schleimhaut von Mund und Darm sei nahe verwandt und der Darm am Immunsystem be- teiligt. Insofern sei es sinnvoll, bei einer nicht nach Plan lau - fenden Therapie auch an Ernäh-