8 | www.pn-aktuell.de WISSENSCHAFT & PRAXIS Nr. 1 | Februar 2014 Welche Grundlagen braucht die Parodontologie? Fortsetzung von Seite 1 Parodontale Lappenoperationen von Molar zu Molar, wie sie in den 1980er- und 1990er-Jahren durchgeführt wurden, gibt es heute so gut wie nicht mehr. Bei den meisten unserer parodontal erkrankten Patienten kann ein Deep Scaling zum Erfolg führen. Deep Scaling ist eine Tätigkeit, die mit Sicherheit Zeit und manuelles Geschick braucht, die aber nicht zu den komplizier - testen Eingriffen in der Zahn - medizin gehört. Studien aus den 1980er-Jahren zeigten, dass Dentalhygieniker/-innen die sel - ben Wundheilungsergebnisse er- zielen können wie Zahnärzte. Thema Zahnerhalt Für unsere Prophylaxehelfer/ -innen stehen die supragingivale Plaquekontrolle oder der Gingi- vitisindex im Mittelpunkt ihres täglichen Handelns; die paro- dontologisch tätigen Zahnärzte messen den Behandlungserfolg in der Regel in der Taschentie- fenreduktion oder dem Attach- mentgewinn. Sie müssen sich aber stets bewusst sein, dass für Patienten nicht die supragingi- vale Plaque, das blutende Zahn- fleisch oder die Zahnfleisch - tasche, sondern der erhaltene Zahn im Mittelpunkt steht. In der parodontologischen Literatur liegen leider keine randomisier- ten, kontrollierten Studien zum Thema Zahnerhalt vor; es gibt einige ältere Studien, die sich mit diesem wichtigsten Thema der Parodontologie beschäftigt litten. Vergleichbare Ergebnisse erzielten Axelsson et al. auch bei der Behandlung parodontal er- krankter Patienten. Diese Studien erfüllen aber nicht mehr die wissenschaftlichen Standards der heutigen Zeit, sodass bei Übersichtsar beiten ihre Validität in Zweifel gezogen wird und sie bei Metaanalysen nicht einbezogen werden. Letzt - endlich bestätigen aber retro- spektive Studien aus vielen Pra- xen und unter anderem aus den Zahnkliniken in Frankfurt am Main und Kiel, dass parodontal erkrankte Patienten im Durch- schnitt jährlich 0,1 bis 0,15 Zähne verlieren, wenn der Pa- tient sich einer systematischen Parodontalbehandlung unter- zieht und er kontinuierlich eine unterstützende Parodontalthe- rapie wahrnimmt. Und die Zahnverlustrate? Eine bisher nicht ausreichend beantwortete Frage ist, ob diese geringe Zahnverlustrate auch im Versorgungsalltag realisiert wird. Eine indirekte Antwort darauf gibt die Study of Health in Pomerania (SHIP), in der über zehn Jahre ca. 2.700 Probanden nachuntersucht wurden. Eine vorläufige Auswertung zeigt, dass das am stärksten parodon- tal erkrankte Viertel der Bevölke- rung innerhalb von zehn Jahren durchschnittlich vier Zähne und die restlichen Probanden maxi- mal zwei Zähnen verlieren. Sicherlich kann der jährliche Verlust von 0,15 Zähnen bei pa- rodontal in Schwerpunktpraxen n u s y l s a © in ausreichendem Umfang und mit entsprechender Qualität in Deutschland durchgeführt wer- den, und wenn ja, wie kann dieser Umstand verbessert werden? Attachmentverlust bezogen auf das Alter Wahrscheinlich ist die Progres- sion des Attachmentverlustes über die Lebensspanne hinweg nicht linear, sondern sie ist stär- ker ausgeprägt in jüngerem und in höherem Lebensalter. Die Konsequenz für den Alltag ist, dass wir auch bei den 30- bis 40- Jährigen nach Konkrementen tasten sollten. Diese Patienten- gruppe mit ihren blutenden 4 bis 5 mm tiefen Taschen im Appro - ximalraum betrachten wir nicht als richtig parodontal erkrankt und als unsere Parodontalpa- sollten Parodontalbehandlungen ohne großes Problem durch - zuführen sein. Diese Behand - lungen können größtenteils de- legiert werden, aber dafür brau- chen wir gut ausgebildetes Personal. Wenn wir Qualität er- reichen wollen, muss diese Qua- lität auch kontrolliert und gege- benenfalls durch entsprechende weitere Ausbildungen verbes- sert werden. Verteilung des Budgets Mit Sicherheit trägt auch die Verteilung des zahnärztlichen Budgets der gesetzlichen Kran- kenversicherung das ihre zu diesem Ungleichgewicht bei, denn in der GKV wurden 2012 von den ca. 11 Milliarden des Gesamtbudgets 355 Millionen für parodontologische Behand- Abb. 1a Abb. 1b Abb. 1c Abb. 1d Fallbeispiel: Behandlung ad modum Axelsson. Mann, Nichtraucher, geb. 1960. – Abb. 1a: Vor OP, 39 Jahre alt. – Abb.1b: Intra OP. – Abb. 1c: Zwei Jahre nach OP. – Abb. 1d: 50 Jahre alt. „Weshalb gelingt es uns nicht, die parodontale Behandlungslast stärker zu reduzieren?“ haben und die zeigen, dass durch Parodontalbehandlungen Zähne erhalten werden können. Sicherlich am bekanntesten sind dazu die Studien von Axelsson. Die berühmten Karlstad-Stu- dien in den 1980er-Jahren zeig- ten, dass gut motivierte und in- struierte, parodontal gesunde Patienten, die sich regelmäßig einer professionellen Zahnrei - nigung unterzogen, in sehr ge- ringem Umfang weitere kariöse Läsionen entwickelten oder At- tachment- und Zahnverluste er- behandelten Patienten nur mit großer Einschränkung mit den 0,4 jährlich verlorenen Zähnen bei parodontal erkrankten Vor- pommern verglichen werden. Aber dieses Zahlenverhältnis von 1:2 oder 1:3 (Zahnverlust bei parodontal Behandelten vs. parodontal Unbehandelten) fin- det sich auch in einer Auswer- tung eines Patientenregisters einer amerikanischen Versiche- rung. Aus dem Vergleich dieser Zahlen ergibt sich die Frage, ob Parodontalbehandlungen nicht tienten. Bei diesen Patienten genügen mit Sicherheit zwei professionelle Zahnreinigungen zur Motivation, Instruktion und Konkremententfernung und dann im jährlichen Abstand eine professionelle Zahnreini- gung, sofern sie nicht Raucher oder Diabetiker sind. Ähnlich sollte auch mit Senioren verfah- ren werden, bei denen im Alter vermutlich die Abwehrkraft nachlässt. Da ältere Patienten in der Regel weniger Zähne haben und meist auch keine Molaren, lungen ausgegeben. Sogar für die Position Kieferbruch wurde genauso viel und für die kiefer - orthopädische Behandlung un- gefähr das Doppelte wie für parodontologische Behandlun- gen ausgegeben. Ein großer Teil der parodontologischen Be- handlungen wird in Deutsch- land privat abgerechnet, aber diese GKV-Verhältnisse wider- spiegeln den Stellenwert, den wir als Berufsorganisation dem parodontologischen Zahnerhalt zumessen. Es besteht ein ekla- tantes Missverhältnis zwischen der parodontalen Erkrankungs- last in der Bevölkerung und der Verteilung der GKV-Ressourcen. Dieses Missverhältnis zeigt, dass es nur einen geringen Anreiz gibt, Parodontalbehandlungen durchzuführen. Das Bonusheft als Chance Mit dem Bonusheft für gesetz- lich Krankenversicherte haben wir ein Werkzeug, das von der Bevölkerung gut angenommen wird. Die allermeisten unserer Patienten bringen dieses regel- mäßig zum Abstempeln in un- sere Praxis mit. Leider ist das regelmäßig geführte Bonusheft mit der Reduktion von Zahner- satzkosten verbunden und wird nicht bei parodontal erkrankten Patienten als Anreiz eingesetzt, Recallbesuche zu motivieren und zu unterstützen. Dieses Bo- nusheft bietet unserem Berufs- stand eine große Chance auf Be- völkerungsebene, die wir bisher nicht ergriffen haben und um die wir uns kümmern sollten. Universitäten Die universitäre Ausbildung in Parodontologie trägt derzeit aus meiner Sicht auch nicht viel zum parodontologischen Qualitäts- bewusstsein unserer Studenten bei. Es gibt in Deutschland nur sechs eigenständige, parodonto- logische Abteilungen (Münster, Gießen, Frankfurt am Main, Marburg, Dresden, Witten/Her- decke) und zwei Zahnerhaltun- gen unter parodontologischer Führung (Bonn und Kiel). Unsere Studenten werden in der Vorklinik mit der Herstellung von Zahnersatz in die Zahnmedizin eingeführt, und dort werden die präventiven Aspekte der Zahn- heilkunde nur theoretisch und nicht praktisch vermittelt. Werden zum Beispiel alle Lehrveranstal- tungen in der Klinik ohne Gewich- tung bezüglich Vorlesung, Kurs oder Seminar in Greifswald oder Frankfurt aufsummiert, so ist in der klinischen Ausbildung die Parodontologie für ca. 10 Prozent des Unterrichts verantwortlich. Damit ist auch für Studenten klar, wo sie ihre Schwer- punkte setzen müs- sen, und vermutlich prägen wir sie da- mit für ihr weiteres Zahnarztleben. Infos zum Autor Adresse Prof. Dr. Thomas Kocher Ernst-Moritz-Arndt-Universität Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Abteilung Parodontologie Walther-Rathenau-Str. 42a 17489 Greifswald kocher@uni-greifswald.de www.uni-greifswald.de