4 I www.pn-aktuell.de Nr. 4 I August 2016 WISSENSCHAFT & PRAXIS Aggressive und chronische Parodontitis zuverlässige prognostische Ein- schätzung der Erhaltungsmög- lichkeiten im Rahmen einer Reevaluation erfolgen. Dadurch können auch im parodontal kompromittierten Gebiss hohe Überlebensraten nachfolgender prothetischer Versorgungen er- (Buset et al., 2016). Ein zeit- sparendes und effektives Mittel zur Früherkennung ist der Paro- dontale Screening Index (PSI), dessen Ergebnis auf einen be- stimmten Grad der Behandlungs- bedürftigkeit hinweist. Auch wenn nach dem einheitlichen sein. Selbst Bissflügelaufnah- men, die im Zuge einer Karies- diagnostik bei jungen Patienten von Zeit zu Zeit angefertigt wer- den, können eine beginnende AgP bereits frühzeitig aufde- cken (Cogen et al., 1992; Sjodin et al., 1993). Gerade für eine begonnen, so kann man eine langsame Progression anneh- men und es handelt sich eher um eine schwere CP. Dagegen könnte die Erkrankung auch erst einige Jahre zuvor begonnen haben und damit sehr rasch ver- laufen sein. Fortsetzung von Seite 1 Lässt sich dies pauschal mit unterschiedlichen Erwartungen an die parodontale Erhaltungs- fähigkeit von Zähnen erklären? Zweifellos kann nach dem Ver- lust strategisch wichtiger Zähne in Folge einer Parodontitis die Kaufähigkeit nur durch prothe- tische und/oder teils aufwendige implantatchirurgische Maßnah- men wiederhergestellt werden. Häufig führen diese dann aber infolge biologischer oder tech- nischer Komplikationen zu wei- teren Zahnverlusten und pro- thetischen Reparaturen und ver- ursachen demzufolge hohe Fol- gekosten (Laurell et al., 1991; Pjet ursson et al., 2004; Schmidlin et al., 2010; Bragger et al., 2011; Schwendicke et al., 2014; Schwen- dicke et al., 2016). Früherkennung und präventive Behandlung der Parodontitis Abb. 1a Primäres Ziel muss deshalb ein frühzeitiger Therapiebeginn sein, denn beginnende parodontale Er krankungen erfordern einen geringeren Therapieaufwand als fortgeschrittene und verursachen damit niedrigere Kosten. Auch wenn die während der letzten Jahrzehnte sinkende Anzahl von fehlenden Zähnen im Erwachse- nenalter ermutigend ist (Michee- lis und Bauch, 1999; Micheelis und Schiffner, 2006), scheint es dennoch nach wie vor ein er- hebliches Verbesserungspoten- zial zu geben. Studienergebnisse aus Skandinavien dokumentie- ren, dass mithilfe einer frühzei- tigen präventiven Betreuung der Patienten erfolgreiche Zahner- halte über 65 Jahre möglich sind (Schätzle et al., 2004). So fehlen den Senioren im direkten Ver- gleich mit der gleichen Alters- gruppe in Deutschland nur halb so viele Zähne (König et al., 2010). Zusammengefasst hat in Skandinavien die Prävalenz der Parodontitis bei gleichzeitig besserer Mundhygiene und stei- gender Anzahl an erhaltenen Zähnen abgenommen (Skuduty- te-Rysstad et al., 2007; Hugoson et al., 2008). Eine wesentliche Rolle bei der Frage des Zahnerhaltes spielt die Prognose des weiteren Er- krankungsverlaufs. Dabei spielt das Ausmaß der Destruktion zu Beginn der Behandlung über weite Strecken nur eine unter- geordnete Rolle. Sie bedingt den Aufwand der Therapie, aber nicht notwendigerweise ihren Ausgang. Erst während des Ver- laufs der unterstützenden Paro- dontitistherapie (UPT) nach er- folgreichem Abschluss der ak- tiven Therapiephase kann eine Abb. 1b Abb. 1a: 06/1991: Männlicher 43-jähriger Patient, Raucher, schwere generalisierte chronische Parodontitis. – Abb. 1b: 06/2007: 16 Jahre nach aktiver Parodontitisthera- pie, regelmäßiger halbjährlicher UPT mit zwei Zahnverlusten (17 [1996] und 47 [2000]) sowie der Notwendigkeit zur lokalen Rezidivbehandlung mit Extraktion 14, 24 und 25 und folgendem prothetischem Ersatz dieser Zähne durch festsitzende Brücken. reicht werden (Graetz et al., 2013b). Allerdings ist nicht nur die Mundhygiene relevant. Inter- aktionen der Parodontitis mit anderen Erkrankungen, wie bei- spielsweise Diabetes mellitus, beeinflussen die Prävalenz und den Schweregrad der parodon- talen Entzündung (Taylor et al., 1996; Khader et al., 2006; Pre- shaw et al., 2012) ebenso wie das Rauchen (Chambrone et al., 2010) und können somit weitere Zahnverluste bedingen (Faggion et al., 2007). Um auch in Deutschland zu einem (mehr) präventiven Be- handlungskonzept zu finden, sollten erste Anzeichen paro- dontaler Veränderungen durch ein parodontales Screening frühzeitig erkannt werden. Ins- besondere die klinische Dia- gnostik mit der parodontalen Sonde stellt hier eine wirksame Methode dar. Eine aktuelle Über- sichtsarbeit beschreibt eindeu tig, dass Parodontitis keine „leise“ Erkrankung ist, d.h. nicht ohne klinische Anzeichen verläuft Bewertungsmaßstab für zahn- ärztliche Leistungen (BEMA) der PSI nur alle zwei Jahre abge- rechnet werden darf, sollte dieser Schnelltest insbesondere bei Patienten mit erhöhtem Risiko für parodontale Erkrankungen häufiger durchgeführt werden. Allerdings ist zu beachten, dass es sich beim PSI tatsächlich um ein Screening handelt. Schlägt er an, ist eine umfassende paro- dontale Diagnostik erforderlich. Erst durch sie kann die Diagnose einer Parodontitis gestellt wer- den. Daraus ergibt sich auch, dass der PSI ungeeignet zur Feststellung des Erkrankungs- zustandes bzw. zur Verlaufs- beobachtung und Erkennung von Rezidiven bei Patienten ist (Eickholz, 2010a), bei denen be- reits eine parodontale Erkran- kung festgestellt wurde oder die sich in der UPT befinden. In die- sem Falle muss eine vollständige parodontale Diagnostik erfolgen (Eickholz, 2007a). Zusätzliches diagnostisches Hilfs- mittel können Röntgenbilder solch lokalisierte Erkrankungs- form, bei welcher häufig die In- zisiven und ersten Molaren zu- erst betroffen sind (Lang et al., 1999), sollte grundsätzlich eine Beurteilung des Verlaufs des Limbus alveolaris erfolgen. Neben einer familiären Häufung der Parodontalerkrankung und ein außer der Parodontitis kli- nisch gesunder Patient gilt insbe- sondere das rasche Voranschrei- ten der parodontalen Destruktion als primäres Kennzeichen der AgP (Armitage, 1999; Lang et al., 1999). Diese drei Hauptmerk- male wirken insgesamt leicht be- urteilbar, jedoch kann beispiels- weise bereits die Definition „schnelle Progression“ Fragen aufwerfen. Fort geschrittene De- struktionen bei Jugend lichen und jungen Erwachsenen bis 20 Jahre lassen auf eine rasche Pro- gression schließen, wenn man annimmt, dass die Erkrankung in der Pubertät begann. Aber wie bewertet man die Situation bei einem 40-Jährigen? Hat die Des- truktion im Alter von 20 Jahren Aktive Parodontitis therapie im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium Grundsätzlich gibt es in Ab - hän gigkeit der beiden Diag- nosen „aggressive“ oder „chro- nische Parodontitis“ keine Un- terschiede im Therapieansatz, was anhand eines stufenarti- gen Therapieschemas der Kli- nik für Zahn erhaltung und Parodon tologie in Kiel erläutert werden soll. Hierbei erfolgen in der Hygiene phase eine indi - vi duelle Instruk tion und Moti- va tion des Pa tienten zur Mund- hy giene mit einem Schwerpunkt auf der In terdentalraum pflege sowie pro fessionelle Zahnreini- gungen (PZR). Die antiinfek- tiöse Parodontitis therapie um- fasst ein nichtchirur gisches Debridement der Wur zelober- flächen aller erkrankten, erhal- tungsfähigen Zähne mit Son- dierungstiefen (ST) ≥ 4mm. Bei sehr schweren Verlaufsformen der AgP und CP kann die me- chanische anti infektiöse The- rapie mit einer unterstützenden sys temischen Anti biose kom- biniert werden. In der Regel kann aber auch bei AgP und schwerer CP zuerst rein mecha- nisch anti infektiös, entspre- chend des Kon zeptes der Uni- versität Göteborg, behandelt werden (Schaller, 2016). Bei mangelndem The rapieerfolg der mechanischen Behandlung bzw. einem Fortschreiten der Parodontitis trotz adäquater Therapie wird grundsätzlich eine erneute gründ liche Ana- lyse der Risikofak toren, wie z.B. Rauchen, hohe Plaque-Scores oder Blutzuckerspiegel, vor- genommen und in einem Pa- tientengespräch dis kutiert, um ggf. auf das Patientenverhalten noch intensiver einzuwirken. Insbesondere bei Vorliegen mehrerer ungüns tiger Fakto- ren ist der zusätz liche Nutzen einer unterstützenden syste- mischen Antibiose neben der reinen mechanischen The rapie fraglich (Harks et al., 2015). Kurzfristig kann aber gerade der adjuvante systemische Ein- satz von Antibiotika bessere klinische Erfolge in Kombina- tion mit geschlos senem Vorge- hen ergeben und das Ausmaß parodontalchirurgischer Maß- nahmen dadurch ggf. verrin- gern (Mestnik et al., 2010; Mom- belli et al., 2011).